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I. TEIL / DIE PRODUKTION

Die Entwicklung/ Die wirtschaftliche Organisation / Das Produkt / Der gesetzliche Rahmen


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1. ENTWICKLUNG

Als im Jahre 1890 der erste kinematographische Apparat von den Brüdern Lumière in Lyon auf den Markt gebracht wurde, da war nicht abzusehen, welche Stellung er sich erobern würde. Man kann die Brüder Lumière aber nicht als die Erfinder des Kinematographen ansprechen- wenigstens nicht sie allein. Ein amerikanischer Amateurphotograph Muybridge nahm 1877 zuerst mittels einer Reihe von Kameras in Bewegung befindliche Körper auf, und zwar traten die Apparate in Abständen von 1/25 Sekunden in Tätigkeit. (Heute durchschnittlich 16 Bilder in der Sekunde.) Ein Deutscher, Otto Anschütz, vervollständigte 1885 dieses Verfahren und erzielte schon gute Bilder; aber erst durch die Verbesserungen, die Marey hinzufügte, durch die Benutzung eines Zelluloidfilmbandes, das Friese- Green zuerst anwandte, und endlich durch die Erfindung Edisons, die die Herstellung des perforierten Filmbandes, das ruckweise durch den Apparat hindurchgezogen wird, einführte, wurde die heutige Anwendung des Apparates möglich. Das Verdienst, all diese Einzelerfindungen sinnreich zusammengefaßt und den Kinematographen populär gemacht zu haben, gebührt den Brüdern Lumière, und so werden sie meist als die Erfinder der Kinematographie genannt.

Seitdem hat sich die Technik hauptsächlich drei Aufgaben gestellt: Erstens ein möglichst ruhiges und flimmerfreies Vorführen der Bilder; welches Ziel wohl als erreicht betrachtet werden darf, nachdem die Intervalle zwischen den einzelnen Belichtungen aufs genaueste berechnet und der Reizbarkeit unserer Sehnerven angepaßt worden sind, nachdem besonders diejenigen Teile des Apparates, die das Filmband ruckweise vor der Linse vorbeiführen, mannigfache Verbesserungen erfahren haben.

Als weiteres Hauptziel erstrebt man eine möglichst getreue Nachahmung der natürlichen Vorgänge. Dazu dient in erster Linie die Belebung des Filmbildes durch die Farbe. Was man heute darin sieht, sind meist mit der Hand kolorierte Bilder, die in der Hauptsache von den beiden führenden französischen Firmen, Pathé Frères und Gaumont, auf den Markt gebracht wurden. In neuerer Zeit sind auch Versuche mit der Farbenphotographie gemacht worden. Man hat damit zum Teil recht wirkungsvolle Bilder erzielt. Um die Illusion der Wirklichkeit noch zu erhöhen, hat Edison den kinematographischen Apparat mit einem Grammophon gekuppelt, so daß die Gesten der Personen durch gleichzeitig gesprochene Worte unterstützt werden.

Endlich ist eine Erfindung gemacht worden, die die Figuren aus der Fläche


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heraustreten läßt in den Raum, und zwar so, daß Personen sich als Mitspieler zwischen den projizierten Figuren herumbewegen können.

Als dritte Aufgabe könnte man schließlich noch die Möglichkeit der Vorführung in hellen Räumen nennen. Es sind auch verschiedene Methoden dafür bekannt; doch sie finden für ein Kinotheater von heute sicherlich keinen Anklang; denn für das Kinopublikum geht ja dadurch einer der Hauptnebenreize, den wir noch kennen lernen werden, die Dunkelheit, verloren. Und so können auch derartige Theater, selbst wenn sie auf einem der belebtesten Pariser Boulevards liegen, bei den verlockendsten Programmen auf die Dauer nicht bestehen.

[Randbemerkung: Stoffgebiete] Aber neben der Technik ist das Publikum letzten Endes der Hauptgründer und Former der Kinematographentheater geworden. Und daher ist es von großer Bedeutung, daß die Erfindung zuerst in Frankreich ausgebeutet wurde und daß die Rücksicht auf französischen Geschmack die Art der Leistungen bestimmte. Wo fände sich sonst noch ein Publikum von solcher Beweglichkeit, so ausgesprochener Vorliebe für rasche Sensation, von soviel Geschmack für alles von Natur dem Kinematographen Eigene. Dort haben sich kaum je Stimmen gegen Filmdarbietungen erhoben; der Staat übt auch heute noch kaum Zensur aus, obwohl die Programme, nach deutschen Begriffen, oft recht anfechtbare sind und die Naturaufnahmen fast ganz fehlen. Sie werden auch heute ausschließlich für den deutschen Markt angefertigt. Frankreich war das geborene Land des Kinematographen.

Die ersten Filmaufnahmen wurden von den Brüdern Lumière in der Mitte der neunziger Jahre durch Wanderschaustellungen verbreitet. Es waren meist kurze komische Szenen, auch Straßenbilder und Tagesereignisse, die gefilmt wurden. Doch auf die Dauer wiederholten sich die Szenen; das Publikum verlangte Abwechslung, und man ging dazu über, Bilder zu stellen, denen eine längere zusammenhängende Handlung zugrunde lag. Die Firma Pathé, die inzwischen das Patent Lumière erworben hatte, und die nun lange eine Monopolstellung einnahm, war es, die zuerst diesen Weg betrat. Märchen und Phantasiebilder wurden kinematographisch dargestellt. Daneben aber behaupteten sich die komischen Szenen, die nun zu kleinen Humoresken erweitert wurden. Mittlerweile waren auch andere Firmen auf dem Markte erschienen, und um immer Neues, Abwechselndes zu bieten, wurde im Jahre 1900 von Pathé das erste Drama gefilmt. Doch damit ist die Ära der modernen Sensationsschlager noch nicht eingeleitet. Der Geschmack des Publikums wandte sich zunächst mehr historischen


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Stoffen zu, die sich durch große Menschenansammlungen und pompöse Aufzüge auf der Szene auszeichneten. Später traten besonders auch italienische Firmen mit derartigen Stücken hervor. Heute werden solche Films weniger gekauft; wenn auch die neustens von ,,Biograph" gezeigten Dramen wieder historische Stoffe behandeln, so unterscheiden sie sich doch in ihrer Haupttendenz wesentlich von diesen Stücken der früheren Jahre. Doch davon wird später noch die Rede sein.

Ein Umschwung für die Kinoprogramme, ein Aufschwung für die gesamte Industrie bedeutete dann das Erscheinen des ersten modernen Sensationsdramas ,,Die weiße Sklavin". Charakteristisch für diese neue Gattung ist das soziale Moment. Ja, die Vorliebe dafür ist so stark, daß das Wort ,,sozial" zum gebräuchlichsten Beiwort in der Kinoreklame geworden ist. Damit scheint die Filmfabrikation auf ein Stoffgebiet gestoßen zu sein, das heute einen breiten Platz in der Interessensphäre aller Volksschichten behauptet. Eine dänische Firma hat dieses Drama auf den Markt gebracht und damit den Grundstein für die jetzige Bedeutung der dänischen Industrie gelegt. In Frankreich hatte man aber schon im Jahre 1902 neben den Dramen und Humoresken, mit denen sie unumstritten den ersten Platz behaupteten, dem Kino ein neues Feld erobert, und zwar das der Naturaufnahme. Nicht mehr zufällige Straßen und Städtebilder zeigte man; sondern geeignete Operateure wurden ausgerüstet und in alle Welt geschickt, um landschaftlich hervorragende Gegenden aufzunehmen. Oft arbeiten kapitalistische Unternehmung und wissenschaftliche Forschung Hand in Hand.. Wissenschaftliche Expeditionen werden von den Operateuren großer Fabriken begleitet, oder die Industrie steuert selbst zu derartigen Forschungsreisen bei. Einerseits bilden die Aufnahmen wertvolle Dokumente und Studienobjekte für die Forscher, andererseits sind sie für die Fabrik eine gute Reklame. Dieser Zweig der Industrie, der in der Hauptsache nur von französischen Firmen (in neuerer Zeit auch von einigen deutschen) gepflegt wird, wird von den Unternehmern allgemein als Geschäftsluxus bezeichnet. Ein solcher Film ist, besonders wenn Expeditionen in ferne Länder dazu notwendig sind, äußerst kostspielig und wird nur verhältnismäßig wenig vervielfacht. Immerhin darf man wohl annehmen, daß das Kapital nicht umsonst hineingesteckt wird, wenn man bedenkt, wie gerade in Deutschland eine starke Agitation für einen derartigen Ausbau der Kinematographie vorhanden ist, und wie auch ein Teil des Publikums (wie aus den im zweiten Teil verarbeiteten Fragebogen hervorgeht)


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mehr und mehr derartige Films verlangt. Wenn dieses Bedürfnis erst stärker hervortritt, werden aber die französischen Firmen auch auf diesem Gebiete einen Vorsprung erlangt haben, den die anderen Länder ebensowenig einholen können wie heute auf den anderen Gebieten der Filmindustrie.

[Randbemerkung: Der Anteil der einzelnen Länder an der Produktion] Diese Überlegenheit haben sie sich durch ihre langjährige Praxis erworben. Jahrelang hatte die französische Industrie sozusagen ein Monopol für die Filmproduktion und auch für die Konstruktion der Apparate. Sie bringen dabei von Natur unzweifelhaft den meisten Geschmack mit, die vielseitigsten Einfälle. Als ihre Stellung schon allenthalben gefestigt war, ging anderes, und zwar zunächst italienisches und amerikanisches — dann auch dänisches und englisches und schließlich äußerst zögernd auch das deutsche Kapital an die gleiche Aufgabe. In erster Linie sind es Finanzleute aus der Warenhaus- und Konfektionsbranche. Jedoch arbeiten die französischen Firmen auch heute noch mit viel größeren Kapitalien und sind deshalb imstande, viel mehr für einen Film anzulegen.

Der Handel der Films aber ist international, und besonders Deutschland ist der beste Markt für ausländische Erzeugnisse, weniger wegen eines besonders hohen Verbrauchs, als wegen des geringeren Umfangs der Eigenproduktion. Wenn auch von allen Seiten auf die rapide Vermehrung der Kinotheater hingewiesen wird, in der Produktion sind wir im Vergleich zu anderen Ländern rückständig. Nachfolgende Statistik über die Neuerscheinung auf dem deutschen Filmmarkt in der Zeit vom 15. August bis 15. Oktober 1912 zeigt die starke Internationalisierung des Filmverkaufs und gleichzeitig die schwache Produktivität von Deutschland.

TABELLE 11

Der Anteil der einzelnen Länder am deutsch. Filmmarkt (v.15./VIII.-15./X.1912).
 

Dramen:

Humoresken:

Naturaufnahmen:

Amerika

137 zu 43 603 m 

79 zu 16 929 m 

26 zu 4654 m 

Italien

73 zu 31 027 m 

79 zu 15 081 m

34 zu 3 407 m

Frankreich

71 zu 31683 m

136 zu 27 068 m

78 zu 10 314 m

Deutschland

41 zu 24 984 m

11 zu 4 066 m 

4 zu 874 m

England

16 zu 4 755 m

12 zu 2 374 m

Dänemark

11 zu 9 714 m

8 zu 1 868 m

6 zu 740 m

349 zu 145 766 m

325 zu 67 386 m

148 zu 19 989 m

Deutschland deckte durch Eigenproduktion seinen Bedarf in diesen zwei Monaten an Dramen 12%, an Humoresken 3% , an Naturaufnahmen 3%.


1 Die Tabelle ist nach der Beilage, die zu der Fachzeitschrift “Das Lichtbildtheater" erscheint, zusammengestellt und bringt ziemlich vollständig die Neuerscheinungen der beiden Monate.


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Man sieht, wie amerikanische und italienische Dramen, französische Lustspiele und französische Naturaufnahmen ganz überwiegend sind. Doch ist zum richtigen Verständnis zu bemerken, daß ein großer Teil der Produkte ausländischer Firmen in deren Filialen in Deutschland oder in einem dritten Land fabriziert sind. Und für die inhaltliche Eigentümlichkeit der Darbietungen sind diese Angaben deshalb nur teilweise maßgebend, sie sind es voll und ganz für die unternehmende Initiative und die Organisation der Herstellung. Die Herstellung selbst zersplittert.oder richtiger nationalisiert sich, wie wir noch sehen werden, und je weiter die Zersplitterung vor sich geht, um so weniger wird man von dem Sitz der Stammfirma auf die Art des Produktes schließen können.

Von irgendeinem internationalen Kinostück kann man, heute wenigstens, noch gar nicht reden, und die Entwicklung scheint auch nicht dahin zu zielen. Im Gegenteil trägt jedes Stück deutlich die Spuren seines Herkunftlandes an sich, und im allgemeinen kommen bestimmte nationale Eigentümlichkeiten so stark und so durchgängig zum Ausdruck, daß man von ebensoviel Filmtypen sprechen kann, als Länder an der Weltproduktion beteiligt sind. Französische Art hat bei allen an der Wiege gestanden, und deshalb fehlt in fast keinem Stück französische Pikanterie und jene aufreizende Sensation, die von einem Kinodrama kaum mehr zu trennen ist. Denn, wie schon gesagt, neben der guten finanziellen Grundlage kam eine besondere Begabung der französischen Rasse dieser Industrie zugute. Gesten und Bewegungen wie im Filmdrama sind den Franzosen natürlich. Das Stück scheint nur da zu sein, damit der Schauspieler eine Seite von sich, eine Veranlagung zum Ausdruck bringen kann, während in den deutschen Films diese Natürlichkeit nur einigen Kinostars gelingt; meist scheinen hier die Darsteller in eine ihnen innerlich fremde Handlung eingespannt. Infolgedessen hat auch der französische Film schon viel früher ganz bestimmte Darstellertypen herausgebildet - Personen, die nur immer wieder sich selber spielen und dennoch, gerade weil man sie so gut kennt, immer aufs neue interessieren.

Ganz frei von diesen französischen Vorbildern haben sich nur die Amerikaner gemacht, die sich eine Kinodramatik ganz nach ihrem Geschmack geschaffen haben. Ihre Produkte tragen stärker als alle das Charakteristikum der Massenproduktion, und das Drama, die Humoreske sind immer wieder nach demselben Rezept angefertigt. Im Mittelpunkt steht eine Frau oder ein Mädchen, die Heldin des Dramas, die die Blockhütte gegen feindliche Indianer oder das Schiff ver-


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teidigt und alles bis zum Eintreffen der rettenden Hilfe hält. Mit der rettenden Hilfe erscheint meist der Geliebte vom Typ des ,,good boy". Dabei haben diese Stücke vor allen anderen zuerst eine glückliche Verbindung von Landschaft und Handlung gezeigt, und damit werden bei einer stets sehr rasch und spannend abrollenden Handlung oft ganz vorzügliche Bildwirkungen erzielt. Von ihnen haben auch die Italiener viel gelernt. Doch während ein amerikanisches Stück immer besonders realistisch anmutet, suchen sie in der Szenerie mehr Theatereffekte nachzuahmen. Die handelnden Personen stecken in phantastischen Kostümen, und die Gesten sind pathetisch. Der Effekt besteht meist in einem prunkvollen Zusammenwirken von großen Menschenmassen; häufig werden dabei Motive aus der Geschichte oder Sage zugrundegelegt (Nibelungen, Parzival, Quo vadis, die Herrin des Nils usw.). Die nordländischen Films, vor allem die dänischen, haben der Kinodramatik eine wesentliche neue Note beigefügt: im Sachlichen, wie schon erwähnt, das soziale ,,Drama". Und obwohl sie erst seit wenigen Jahren auf dem Filmmarkt konkurrieren, scheint diese Art den Vogel abgeschossen zu haben.

Der deutsche Stil ist noch dabei, sich zu entwickeln. Jedoch zeichnet er sich auch heute schon durch ganz bestimmte Merkmale aus. Überall macht sich eine stark sentimentale und rührselige Tendenz bemerkbar. Einen Versuch, historische, besser patriotische Stoffe zu bringen, hat dabei die ,,deutsche Mutoskop und Biographgesellschaft'' gemacht, indem sie den Film ,,Theodor Körner" und ,,Von der Königin Luise" anfertigte. Die Handlung wurde stark popularisiert und dem Ganzen ein bürgerlicher Zug gegeben, was sie wesentlich von den historischen Prunkstücken unterscheidet und einer bestimmten Nuance des patriotischen Empfindens näherbringt. Der Hauptwert ist auf eine möglichst getreue Wiedergabe einzelner Szenen aus dem Privatleben, sowie allgemein interessierender Momente aus jener Zeit gelegt, und einzelne Requisiten sind dazu aus dem königlichen Zeughaus in Berlin entliehen. Das starke Unterstreichen dieser für das eigentliche Drama nebensächlichen Umstände sicherte dem Stück immerhin ein gewisses neugieriges Interesse. Auch ist es vielfach für Schulvorstellungen und von Vereinen erworben worden. Neuerdings geht man weiter und spekuliert auf eine bestimmte, dem ,,Intimen" zugewandte Mischung von rührseliger Begeisterung und Neugier, so im Richard Wagner- Film.

Die Humoreske ist in Deutschland kaum gepflegt; von einem besonderen Stil kann man nicht reden, und noch geringer ist merkwürdi-


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gerweise die Eigenproduktion von Naturaufnahmen, obwohl nirgendwo in der Welt ein so starkes Verständnis dafür herrscht. Exportiert wird deutsches Filmprodukt wenig, und nur die deutschen Projektionsapparate treten den anderen auf dem Weltmarkt erfolgreich entgegen.