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3. DAS PRODUKT

[Randbemerkung: Allgemeines] Zwei Arten von Darbietungen sind zu trennen, da sie auf ganz verschiedene Weise entstehen: die Stücke, die Handlungen enthalten und zum Zweck kinematographischer Aufnahme gestellt werden, also Dramen, Humoresken, Tonbilder usw., und die Naturaufnahmen von Landschaften, von Tagesereignissen und aus der Industrie, sowie die wissenschaftlichen Aufnahmen, die Experimente zeigen.

Die erste Gruppe steht im Vordergrund; denn sie macht 6/7 des Normalprogramms eines Lichtspieltheaters aus, das durchschnittlich drei Dramen, drei Possen und eine Naturaufnahme bietet. Dazu kommen, um die mangelnde Qualität durch große Quantität zu ersetzen, noch die sogenannten Einlagen (meist Dramen, seltener Humoresken). Solche Dauerprogramme dehnen sich dann bis zu drei Stunden aus. Und je weiter zur Peripherie einer Stadt, um so länger das Programm 1, um so zahlreicher und schauriger die Stücke, um so seltener die Naturaufnahmen. Auch in den Ankündigungen der Fachzeitschriften treten Naturaufnahmen kaum hervor, und die riesigen Anpreisungen, die schon Wochen vor dem Erscheinen die Spalten der Zeitschriften füllen, gelten den Sensationsdramen. Zu diesen werden ganze Broschüren


1 Eine Durchbrechung dieser Regel bilden die seit einiger Zeit entstandenen theaterähnlichen, modernen Lichtspielpaläste, über die schon früher eingehend gesprochen wurde. 


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mit Inhaltsangaben und Bilden in den Zeitungen verbreitet. Die Form, in der die Annoncen abgefaßt sind, stehen dabei oft in sonderbarem Gegensatz zum redaktionellen Teil. Liest man vorn von Bestrebungen, die das Niveau der Kinodarbietungen heben sollen, von der hohen Stufe, die bereits erreicht ist, und von den ungerechten Angriffen der Volksverbesserer, so vermögen die Annoncen, die gleichsam den illustrierenden Film darstellen sollten, diese Auffassung nicht gerade zu bekräftigen. "Der Schrei nach dem Lebensglück dargestellt unter persönlicher Lebensgefahr des Darstellers", oder "Die Morphinisten sind spannender wie die weiße Sklavin, interessanter wie Versuchungen der Großstadt und aufregender wie das gefährliche Alter", oder "Was die Titanic sie lehrte, in der Hauptrolle Mrs. Dorothy Gibson, eine Überlebende der Titanic". Das sind Proben, die keineswegs zu den Seltenheiten gehören. Ebensowenig genügen die Plakate auch nur bescheidenen ästhetischen Ansprüchen; sie zeigen auffallende Ähnlichkeit mit den Illustrationen herumziehender Sänger von vor 30 Jahren, und nur an einigen wenigen merkt man, daß inzwischen eine Epoche kunstgewerblicher Umwälzung vor sich gegangen ist.

All diese Reklame weist in erster Linie auf das Drama hin, viel weniger schon auf die Humoreske, und gar die Naturaufnahmen führen ein unbekanntes Aschenbrödeldasein. Dem entspricht auch das Verhältnis der tatsächlichen Quantitäten der drei Arten, die auf dem deutschen Markt umgesetzt werden. Bei allen in den Monaten März, April, Mai, Oktober, November, Dezember 1912 erschienenen Films war das Verhältnis von Drama zu Humoreske zu Naturaufnahmen wie 12: 11: 5, und noch deutlicher spricht die Vergleichung der Meterlängen, die ja bei der Kinodarbietung einen so famosen mathematischen Maßstab des Interesses bieten, da daraus der zeitliche Anteil der einzelnen Arten am Programm hervorgeht; sie waren 7: 3: 1. Der Kino ist also in erster Linie ein Gebiet der "Dramen" und der "Possen". Von ihnen selbst und ihrer Entstehung soll nun die Rede sein.

[Randbemerkung: Drama und Humoreske] Man muß alle Begriffe über dichterisches und schriftstellerisches Schaffen, über die diesem Schaffen untergeordnete Arbeit des Regisseurs und des Darstellers beiseite legen und neu lernen, wenn man den Werdegang eines Kinostücks verstehen will. Der Schriftsteller ist nicht mehr Künstler, der frei schaffend produziert, wenn die Ideen reif sind und zur Form drängen; sondern der Schriftsteller - der Filmschriftsteller nämlich - ist zunächst einmal ein Teilchen eines großen 


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industriellen Apparats, dem er mit seinen Leistungen eingegliedert ist. ln erster Linie hat er deshalb die Anforderungen zu erfüllen, die nötig sind, damit der Betrieb nicht ins Stocken gerät. Genau wie in großen mechanischen Betrieben erfordern die in Gehältern, in Gagen der Schauspieler und Regisseure und endlich auch die für Maschinen aufgewendeten Kapitalien eine intensive Ausnutzung der Arbeitskräfte, und so kommt es, daß häufig in einem Monat mehrere Dramen, von ein und demselben Schriftsteller verfaßt, erscheinen. Die Arbeitsteilung zwischen Schriftsteller, Regisseur und Schauspielern ist bei dieser neuen Art ebenfalls verschoben. Der "Schriftsteller" oder der Regisseur in seiner Tätigkeit als Schriftsteller - denn meist sind diese beiden Funktionen in einer Person vereinigt - liefert nur die Idee. Einer weiteren Formung bedarf es nicht. Den Hauptanteil an der Produktion haben der Regisseur und zum großen Teil auch die Schauspieler. Während der Aufführung eines Dramas oder einer Humoreske entstehen sie teilweise erst. Regisseur und Schauspieler arbeiten zusammen, um ein möglichst effektvolles Ganze zu schaffen. Immer wieder wird ein kleiner Akt durchgearbeitet, verändert und nochmals gespielt. Die Schauspieler improvisieren Worte dazu, um die Mimik glaubwürdiger zu machen—bis endlich ein kurzer Abschnitt für die Aufnahme reif ist. Und so wird in den großen Fabrikateliers an vier oder fünf Ecken zugleich, an ebensoviel verschiedenen Stücken gearbeitet. Die Regisseure, die fremde Kunstwerke in die Form der Kinos bringen oder, wie meistens, ihre eigenen Ideen verarbeiten, spielen nicht selten auch noch die Hauptrolle in den Stücken1. So vereinigen z. B. Urban Gad (Union Frankfurt) und Max Linder (Pathé Frères) alle drei Tätigkeiten. Die Mehrzahl aller Dramen und Humoresken entstehen auf die oben geschilderte Art hauptsächlich durch die Arbeit des Regisseurs (der in der Regel durch langfristige Kontrakte an ein Unternehmen gebunden ist) und der Schauspieler, die ebenfalls, besonders bei ganz großen Firmen, dauernd engagiert sind.


1 Bis zur Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst am 13. November 1908 war die Filmproduktion nicht geschützt, da es Gedanken waren, die nicht in besonders sprachliche Form gebracht waren. Durch diese Berner Bestimmungen, die in das Gesetz vom 22. Mai 1910 aufgenommen wurden, steht die kinematographische Aufnahme einem Schriftwerk gleich und genießt denselben Schutz. Zugleich aber enthalten sie wichtige Maßregeln, die gegen Dritte wirksam sind und deren Werke gegen die Darstellung im Kino schützen. Die Erlaubnis dazu darf vom Schriftsteller neben den Rechten des Verlegers verkauft werden.


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Obschon die größeren Unternehmungen mehrere Regisseure und auch mehrere Truppen in landschaftlich reizvollen und abwechslungsreichen Gegenden beschäftigten, so haftet doch derartigen Produktionen leicht etwas Schematisches an. Die Ideen, die Gesichter und die Szenerien wiederholen sich und finden schließlich kein Publikum mehr, wenn nicht an Stelle des stofflichen Interesses ein besonders lebhaftes für einzelne populäre Schauspieler tritt. In Frankreich, wo der Kino schon viel früher sich verbreitete, war das Interesse von jeher so rege, daß Ideen aus dem Publikum eingesandt wurden. In Deutschland dagegen standen Schriftsteller und Dilettanten zunächst ganz außerhalb dieser Entwicklung, zum Teil ihr ablehnend gegenüber. Das kam wohl auch von der geringen Bezahlung der Entwürfe, da die Hauptarbeit ja doch dem Regisseur verblieb. Sie war natürlich je nach der Eignung des Stückes recht verschieden und schwankte zwischen 20 und 100 M.

Erst in neuester Zeit haben bedeutende Dichter ihre Kraft in den Dienst der Kinos gestellt; die Psychologie dabei ist kompliziert. Mag man sich "verantwortlich" gefühlt haben für die Kost der breiten Schichten, nachdem man eingesehen hatte, daß mit der strikten Ablehnung der kinematographischen Dramen, mit dieser rein negativen Stellung keine Ausrottung der Schauerszenen erreicht ward, mochte man zu erkennen glauben, daß der Kino der Weg zu einer für Kunst noch vollständig unerschlossenen Masse sei, mochte endlich diese Umkehr in rein opportunistischen Motiven begründet liegen - kurzum, nachdem schon vorher einzelne den Kino als eine Möglichkeit für eine neue Art künstlerischer Entwicklung proklamiert hatten, gab im Oktober 1912 der Verein deutscher Schriftsteller seine frühere Stellung auf und empfahl den Mitgliedern, dem Kino Stoffe zu liefern, um das bisherige Niveau zu heben. Unter den neuen Verbündeten befinden sich bekannte Dramatiker, wie Schnitzler, Gerhard Hauptmann, Sudermann u. a., und die erste Frucht dieser neuen Verbindung von Kunst und Industrie war das von Paul Lindau geschriebene Drama "Der Andere", in dem die Hauptrolle von Alfred Bassermann verkörpert wurde. Es war jedoch nicht mehr als eine Durchschnittsleistung, und das Bessere bleibt noch abzuwarten

[Randbemerkung: Die Handlung] Der Erfolg würde über jeden Einzelfall hinaus von prinzipieller Bedeutung sein; denn die Tagesfrage scheint in der Tat zu lauten: Ist es möglich, die künstlerischen Qualitäten eines Dramas durch den Film auszudrücken? Kann ohne das Mittel der Sprache, die alle 


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Affekte und Gefühle über die groben Umrisse hinaus differenziert, ein literarisches Kunstwerk vermittelt werden ? Ist das Ausdrucksmittel des Kinos, die Gebärde, nuanciert genug, um des Wortes zu entbehren?

Sicherlich kann nun diese Art der Mitteilung noch über die jetzigen Leistungen hinaus entwickelt werden. Für einzelne Situationen ist die Gebärde ein vollkommeneres Ausdrucksmittel als die Sprache, so überall da, wo durch plötzliche äußere Einflüsse Reaktionen verursacht werden, bei denen auch in der Wirklichkeit die Sprache meist versagt, das ist z. B. der Fall bei plötzlichem Schreck, bei überwältigendem Schmerz usw. Für diese Zustände des Affektes sind schon früher durch Schauspieler, zum Teil auch durch Maler, in ganz starkem Maße aber durch die Kinematographen bestimmte typische Bewegungen fixiert worden, die, sicherlich nicht zuletzt durch die häufige Wiederholung, allgemein verstanden werden. Im Vergleich zur Wirklichkeit müssen aber auch diese Bewegungen stark übertrieben werden, um dem allgemeinen Verständnis zugänglich zu werden. Ähnlich ausgesprochen arbeitet nur noch die Malerei auf die Herausstellung des Wesentlichen hin. Doch dadurch, daß sie immer nur einen Moment herausgreift und nichts Fortlaufendes darstellt, ergeben sich nicht dieselben Schwierigkeiten wie bei der kinematographischen Aufnahme. Im Kino aber wird durch dieses dauernde Unterstreichen notwendigerweise die Psychologie der handelnden Personen vergröbert. Noch weniger aber können alle Geschehnisse vor und nach dem Effekt, die sonst in Monologen oder im Zwiegespräch mitgeteilt werden, durch bloße Mimik zum Ausdruck kommen. Dieses Vor- und Nachher, dies Helldunkel von Gefühls- und Willensarbeit in einem Menschen ist auf diese Weise nicht darstellbar. Es fehlt der Kitt, der die einzelnen Stücke zusammenbindet, da es doch keine einheitliche und festgelegte Gebärdensprache gibt, die bis in die feinsten Nuancen entwickelt wäre. Da müssen schon Worte eintreten, damit auch diese weniger betonten Vorgänge auch denen verständlich werden, die nicht genau auf denselben Ton des Empfindens abgestimmt sind wie der Schauspieler. Vielleicht sind die Menschen von heute mehr als andere befähigt, auf diese Weise aufzufassen. Einzelne Schriftsteller, die besonders stark aus ihrer Einstellung in die Gegenwart schaffen, wie Hanns Heinz Ewers, Hermann Bahr, Johannes Schlaf und Stephan Zweig, sehen in dem Filmdrama eine neue Kunstgattung entstehen1 - während andere,


1 Im Verlag von Kurt Wolf erschien "Das Kinobuch" mit Vorwürfen moderner Schriftsteller für Filmstücke.


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wie Otto Ernst, Dr. Walter Bloem und Julius Stettenheim, gegenteiliger Ansicht sind. Ein Drama ist aber ohne die Übergänge, ohne die innere Umarbeitung der äußeren Handlung nicht möglich. Man braucht da nicht gerade von dem modernen Typus eines Hofmannsthal, eines Maeterlinck aus zu urteilen, die wohl auf dem Gegenpol der für den Kino möglichen Dramatik stehen. Es ist unmöglich deshalb, weil aller Fortschritt der Handlung heute nur psychologische Entwicklung ist, im Gegensatz zu den sogenannten Schicksalstragödien, bei denen der Fortschritt der Handlung durch äußere Ursachen herbeigeführt wird. Doch damit es zur Lösung und Schürzung des Konfliktes kommt, müssen auch sie erst durch einen Menschen hindurchgegangen sein, der dann danach handelt. Dieses Umwerten können wir aber nur durch Vermittlung der Sprache miterleben. Der Film kann davon höchstens die groben Umrisse geben, er kann blitzartig für den Gang der Handlung typische Szenen aufdecken. Die Verknüpfung von Ursache und Wirkung, die den Bau zusammenhält, muß jeder Beschauer je nach seiner Veranlagung dazu tun.

Und zudem: Gerade in der primitiven Form der Handlung liegt zum Teil schon rein äußerlich die Existenzmöglichkeit des Films begründet, muß er doch von Menschen aller Kulturstufen und Rassen verstanden werden. Sie alle zusammen haben über die elementarsten Gefühle hinaus keine Berührungspunkte miteinander.

Ist damit nun der Film, der eine Handlung enthält, grundsätzlich aus dem Kino zu verbannen und das Naturbild als einzig wünschenswerte Form der Darstellung zu betrachten ? Die Mehrzahl der eifrigen Reformatoren gehen ja soweit; doch das hieße aus dem Kino etwas anderes machen als er heute ist, und vielleicht hieße es Ansätze zu künstlerischer Leistung im Keim ersticken.

Der Geschmack ist das Produkt einer langen Entwicklung. An den Erscheinungsformen der Kunst hat er sich geschult und ist durch sie bestimmt worden. Auf eine andere Art als die überlieferten und allbekannten Begriffe ist unser Urteil nicht eingestellt und gewöhnt sich erst langsam um. In Anlehnung an die Dinge, die uns bisher geboten waren, will ein solch modernes Kinodrama aber überhaupt nicht betrachtet sein. Wenn wir es in Parallele zu einem Bühnendrama stellen oder mit einer Folge von Gemälden vergleichen, werden wir ihm kaum gerecht werden. Sollte es aber nicht an dem allgemeinen langsamen Erfassen von Neuem liegen, daß das Wesentliche an der Kinokunst überhaupt noch nicht erkannt ist?—


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Alle die vorhin gemachten Einwände würden nicht zutreffen für den epischen Film, der ohne Anspruch auf dramatische Entwicklung erzählt - in Bildern erzählt und lediglich unterhalten will. Im Grunde genommen ist ja jedes sogenannte Kinodrama nichts anderes, kann gar nichts anderes sein, da das Wesentliche der Konflikte gar nicht wiedergegeben werden kann. Nur dadurch, daß immer wieder solche Stoffe zugrunde gelegt werden, die nicht den rein erzählenden Charakter tragen, die der Kino vielleicht darstellen kann, entstehen solche Zerrbilder, wie man sie häufig sieht. Gerade dadurch, daß es dem Lichtbild möglich ist, alle begleitenden Nebenumstände bis ins einzelne wiederzugeben, den Rahmen der Handlung, die Bewegung naturgetreu zu schildern, übertrifft die Darstellung an Lebendigkeit jede gesprochene oder gelesene Erzählung. Innerhalb dieses Rahmens liegen unendlich viele Möglichkeiten künstlerischer Entfaltung, etwas ganz Neues, das zwischen Bühnendrama und Roman liegt.1

Was bisher am Drama nicht so klar erkannt wurde, daß nämlich im Geschehen, in einer Anhäufung von Ereignissen das Wesen der Kinoerzählung liege, das wurde für die Posse eigentlich schon lange begriffen. Einer mehr oder minder gut inszenierten Situationskomik begegnen wir daher immer wieder. Wenn auch über die üblichen Verfolgungsszenen hinaus bisher noch nicht allzuviel neue Ideen auftauchten, so hat doch die Kinohumoreske sich von vornherein in den Bahnen entwickelt, in denen sie Unnachahmliches leisten kann. Sie hat deshalb auch, trotz vieler Geschmacklosigkeiten, weniger Widerspruch bei den Kritikern erregt als das Drama.

[Randbemerkung: Das Bild ] Doch mit der Ausarbeitung des stofflichen Inhaltes, sowohl beim Drama als auch bei der Humoreske, ist die Aufgabe, die der Film in künstlerischer Hinsicht erfüllen kann, noch nicht vollendet. Gerade in letzter Zeit wird immer bewußter ein Teil des Effektes in der rein bildmäßigen Wirkung gesucht. Schon von den modernen Bühnenaufführungen her ist das Auge für Raum- und Linienwirkung geschult worden. Im Kino, wo es allerdings neben jener Formenwirkung auch noch den stofflichen Inhalt zu übermitteln hat, sieht man das gleiche

Zuerst waren es amerikanische Firmen, die durch die Zusammenwirkung von malerischen Landschaften und Bewegung eine ganz neue


1Siehe auch die Bemerkungen von Max Beer zu Film, Theater und Roman in der Frankfurter Zeitung vom 1. Juni 1913, die zu einem ähnlichen Resultat kommen. Vgl. auch den geistvollen Artikel von G. v. Lukacz, Gedanken zu einer Ästhetik des Kino, ebenda 10. September 1913.


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Ära in die Filmkunst brachten. Rein bildmäßig betrachtet, sind so auch die bekannten Trapper- und Indianergeschichten mit ihren sich immer wiederholenden Inhalten häufig von direkt künstlerischer Wirkung. Um diese zu erreichen, bedurfte es erst einer längeren Schulung, da keine Vorbilder vorhanden waren, an die man sich hätte anlehnen können. Doch heute sind Künstler zielbewußt mit der Ausbildung dieser Seite kinematographischer Darstellung beschäftigt. So zeigte z. B. der von der Firma Ambrosio (Turin) auf den Markt gebrachte Film "Parsival" in dieser Hinsicht ganz Ausgezeichnetes.

Über den künstlerischen Wert der Kinoleistungen ist viel hin- und hergestritten worden; um das Echte aus dem Schund herauszufinden, bedarf es längerer Anschauung. Doch ein großer Teil derer, die vorurteilslos herangegangen sind, erkennen die zuletzt besprochene Art der künstlerischen Leistungen voll und ganz an. Friedrich Freksa sagte einmal: "Die Phantasie des Dichters fährt noch in der Postkutsche, während die Phantasie des Technikers schon im Aeroplan daherbraust. Darum soll die wundervolle Erfindung des Kino nicht verdammt werden; sondern die Zeit soll danach streben, sie zu verdauen." Mittlerweile sind ja schon viele damit fertig geworden, und indem sie die Werte erkannten, die in der neuen Erscheinung enthalten waren, griffen sie zum Teil zur Mitarbeit, um das Echte und Schöne möglichst rein herauszubringen

[Randbemerkung: Die Schauspieler] Zuerst waren es Schauspieler, die im Filmdrama ein Feld für ihre künstlerische Betätigung sahen. Sie standen, wie alle vom schauspielerischen Standpunkt Urteilenden, dem Filmdrama in prinzipieller Hinsicht nicht ablehnend gegenüber; das geht aus den verschiedenen Antworten hervor, die auf eine Umfrage der internationalen Filmzeitung: "Ist das Kinematographendrama ein Kunstwerk ?" erfolgten. Alfred Bassermann, Harry Walden, Richard Schultz (der Direktor des Berliner Metropoltheaters), sowie Dr. Karl Hagemann (Direktor des deutschen Schauspielhauses in Hamburg) schätzten z. B. den Kunstwert eines Kinodramas nicht so niedrig ein, wie damals noch die Mehrzahl der Beurteiler. Dem individuellen Können des Schauspielers ist ja auch gerade hier unendlich mehr Spielraum gelassen, weil er in größtem Maße Mitformer des Werkes wird, ganz anders, als dies auf der Bühne der Fall ist, wo der Dichter die Bewegungen der einzelnen Personen von vornherein viel genauer determiniert hat. Man hat sich daher auch schon früh in den Dienst der neuen Kunst 


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gestellt, und die folgende Aufzählung einiger Namen zeigt, daß es nicht nur unbekannte Größen waren:

Asta Nielsen, Betti Nansen, Urban Gad vom königl. Theater in Kopenhagen.
Sarah Bernhard, die mit ihrem Ensemble für die Charing cross history Film Comp. spielte,
Adele Sandrock, als Marianne in dem Drama “Marianne, ein Weib aus dem Volke",
Grete Wiesental (Wiener Firma),
Saharet (Messter Projektion), .
Ferdinand Bonn,
Tilla Durieux,
Alfred Bassermann,
Giampietro,
Clewing,
Pallenberg,
Madame Polaire (Royal Film Comp., Düsseldorf).
 

Diese Fahnenflucht wurde von den Direktoren und Berufsverbänden zunächst sehr mißbilligt und energisch bekämpft. In Wien wurde sogar den Ungetreuen mit Entlassung gedroht. Der Verein deutscher Bühnenangehöriger verbreitete eine Flugschrift, in der energisch gegen den Kino Stellung genommen wurde. Doch spricht daraus stärker die Sorge um die gefährdete Existenz der Theater als die Sorge um die bedrohte Kunst überhaupt. Die Großen kehrten sich nicht daran, die Kleinen gingen vollends zur stummen Mimik über, wo ohnedies die Einnahmen besser waren. Jedenfalls war der Kino in diesem Streit der Sieger, und nach wie vor wurden bekannte Künstler und Künstlerinnen für ihn gewonnen.

Die bekanntesten Kinostars aber sind keine früheren Bühnengrößen, sondern erst durch die Kinematographen bekannt geworden. In den ersten Jahren traten die Schauspieler äußerlich ganz und gar hinter ihrem Werk zurück, es waren ja doch nur unbekannte Namen, die man hätte nennen können. Nach und nach jedoch kehrten einzelne Figuren immer wieder. Sie lösten sich aus der Masse der indifferenten Kinomimen los, und heute knüpfen sich an die Namen von Max Linder, von Asta Nielsen oder Wanda Treumann für jeden regelmäßigen Kinobesucher ganz bestimmte Vorstellungen. Da meist derselbe Schriftsteller mit einer Truppe dauernd arbeitet, sind ihre Namen das Aus- 


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hängeschild für irgendeine bestimmte Art von Stücken. So gibt es Asta Nielsen - und Lissi Nebuschka - Serien.

Die Gagen, die diese Berühmtesten bekommen, übertreffen meistens die Einnahmen an großen Theatern, und nur in großkapitalistischen Unternehmungen können sie bezahlt werden. Max Linder bezieht ein Jahresgehalt von 330 000 Fr., Fritzchen Abélard, ein etwa zehnjähriger Knabe, von der Firma Gaumont 15 000 Fr., Asta Nielsen für ihre Mitwirkung in zehn Dramen jährlich bei einer Spielzeit von etwa 5 Monaten 85 000 M.

Für eine Aufführung bekamen:

 

Giampietro.......................................................10 000 M.
Pallenberg........................................................10 000 M.
Fritzi Massary....................................................5 000 M.
Kutzner..............................................................3 000 M.
Madame Polaire...............................................15 000 M.

 

Dabei waren fast alle diese Künstler außerdem an irgendeiner Bühne tätig.

Bühne und Kino stellen an die Fähigkeiten des Schauspielers ganz verschiedene Anforderungen. "Neue dramatische Gesetze treten hier in Kraft."1 Nur wenige vereinigen aber beide Qualitäten in sich zugleich. Im Fabrikatelier wird der Darsteller immer die Gegenüberstellung mit dem Publikum vermissen, das er zu gewinnen hat und dessen Beifall ihn anspornt. Hält er sich überhaupt zu eng an die Theatertechnik, indem er sucht, durch improvisierte Worte die Gesten möglichst natürlich zu machen, so beeinträchtigt das häufig die Wirkung der Aufnahme sehr. Man hat dann das unangenehme Gefühl, einem Taubstummen gegenüberzusitzen, der krampfhafte Anstrengungen macht, sich mitzuteilen. Dagegen sind gerade der kinematographischen Vorführung Ausdrucksmöglichkeiten an die Hand gegeben, die nur durch sie allein zu höchster Vollendung gebracht werden können; ich möchte es Ausdrucksplastik nennen - Sprache der Bewegung, und zwar nicht nur des Gesichtsausdrucks, der ja auch im Lichtbild viel genauer gesehen wird, sondern auch des ganzen Körpers. Dies Spezialgebiet künstlerischer Betätigung ist erst von wenigen erkannt.

Doch neben diesen Hauptdarstellern steht das Gros der Kinoschauspieler, deren Los sich kaum vorteilhaft von dem ihrer Kollegen auf der Bühne unterscheidet. Die größten Firmen, z. B. Pathé, Gau-


1Weitere Ausführungen über diese Frage finden sich in einer kleinen Schrift von Herbert Tannenbaum, Über Kino und Theater.


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mont Cines und andere, unterhalten ständige Truppen. Die Kostüme werden von den Fabriken gestellt. Kleinere Firmen, und zwar die Mehrzahl aller bestehenden, die nur wöchentlich oder meist seltener einen neuen Film herausbringen, engagieren immer nur für je ein Stück. Angelockt durch gelegentliche Zeitungsnotizen, die von fabelhaften Gehältern einzelner Kinoschauspieler berichten, wuchs das Angebot von Arbeitskräften ungeheuer. Vermehrt wurde es noch durch den Umstand, daß viele Theater, gezwungen durch die Konkurrenz des Kinos, ihre Pforten zuschlossen und viele Schauspieler brotlos wurden. Heute spielen in Berlin etwa 2000 Personen für den Kino. Es entstand ein Schauspielerproletariat, das in seiner wirtschaftlichen Lage schlechter dasteht als irgendein Industriearbeiter. Ihre Existenz ist ganz und gar ungesichert, da sie meist nur für die Aufführung eines Stückes engagiert werden. Unter diesen Verhältnissen hat sich denn auch eine, wenn auch nicht konzessionierte, Stellenvermittlung herausgebildet. Allabendlich werden im Admiralscafé in Berlin von Agenten, die dafür 10% der Gage beanspruchen, die Engagements vermittelt. Zieht man in Betracht, daß das Spiel für den Kino ursprünglich nur eine Nebenbeschäftigung war und daß es sich im allgemeinen hierbei um Kräfte zweiter und dritter Qualität handelte, so erscheinen die im einzelnen bezahlten Gehälter im Verhältnis zu den Theatergagen nicht niedrig. Ein Drittel der Theaterschauspieler verdient weniger als 1000 M, 10% nur über 3000 M. Abgesehen von den einzelnen Darstellern der Hauptrollen, beziehen die Kinoschauspieler 5 - 6 M pro Tag bei etwa neunstündiger Arbeitszeit. Für einen Film, für dessen Einübung sie jedesmal engagiert sind, macht das 20 - 50 M.

Durch die Abhängigkeit von einer so qualifizierten Arbeit hat sich die Industrie an den großen Zentren konzentriert; denn nur die Großstadt vereinigt die beiden Arten von Arbeitskräften, die für sie in Betracht kommen, nämlich einerseits die hochqualifizierte Arbeit der Künstler und andererseits das flukturierende Element des beschäftigungslosen Schauspielerproletariats. So kommt es denn, daß fast alle deutschen Filmfabriken (ich kenne nur vier Ausnahmen) in Berlin ihren Sitz haben.

Ferner ist die Industrie daselbst absatzorientiert; denn etwa ein Zehntel der 3000 deutschen Kinos befinden sich in Berlin. Endlich haben sich andere Faktoren dazu gegliedert, so die allgemeine Anerkennung der Berliner Zensur. Die Filmverleihgeschäfte, die die Verbreitung besorgen, liegen dagegen zum großen Teil in der Provinz verstreut. 


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Durch die zum Teil recht hohen Gehälter der Schauspieler repräsentiert so ein Filmnegativ einen sehr hohen Wert, der sich noch erhöht, wenn zur Erlangung eines passenden Hintergrundes weite Reisen erforderlich werden. Um die überflüssig zu machen, sucht man verschiedene Motive durch Anlage von Parks zu vereinigen, in denen alle möglichen Szenerien nebeneinanderstehen. Wir gehen z. B. aus von einem alten Schloß, das ursprünglich die Alleinherrscherin der Gegend war. Gleich daneben erhebt sich ein halbvollendeter Neubau, und noch ein Stück weiter betritt man den Hof einer kleinen ländlichen Wirtschaft. Hühner, Enten und Gänse, Hunde und selbst zwei richtige Bären leben hier ihr Künstlerdasein. An das Haus schließt sich "der Urwald" an, von einem Wasserarm durchflossen, und zehn Schritt weiter stehen wir vor einer Autogarage, die den wichtigsten Bestandteil jedes Kinostücks, das Automobil, enthält. Von einem modernen Straßenzug kommen wir unmittelbar in ein altes Rothenburg mit schiefen Dächern und engen Gassen. Solche Museumparks gibt es aber nur vereinzelt, und allen Anforderungen an realistische Umgebung können sie nicht entsprechen. Die Mehrzahl der Aufnahmen wird mitten im Verkehr auf der Straße gemacht oder wo immer sich geeignete Stellen finden. Der Pariser oder Berliner ist schon ganz und gar an solche Aufzüge gewöhnt, und das Publikum bildet höchstens die zu jeder auffallenden Szene nötigen Statisten. Die Unkosten für ein Drama belaufen sich dabei durchschnittlich auf 10 000 - 30 000 M. Doch werden oft bis 150 Positive von einer Aufnahme bestellt, wenn die Wirkungen, die einen Schlager daraus machen, richtig eingeschätzt sind, und wenn endlich die Schere des Zensors nicht alle Hoffnungen jäh unterbricht.

[Randbemerkung: Naturaufnahmen] Zum Schlusse noch einige Worte über die Naturaufnahmen, diese am wenigsten angefeindete und am wenigsten gepflegte Art kinematographischer Aufnahmen. Gerade auf ihre Popularisierung, auf ihre Vervollkommnung baut die Mehrzahl der Reformer ihre Hoffnung. Muß für den Kino eine Lanze gebrochen werden, so werden immer ihre Vorzüge, ihre Nützlichkeit gepriesen. Aber man merkt im allgemeinen eigentlich erst etwas von ihr, wenn man vor der Leinwand sitzt und zwischen Humoreske und Drama plötzlich zehn Minuten lang wie eine Vision ferne Länder und Städte auftauchen und ebenso stumm verschwinden sieht. Für die Fabrikanten sind sie das Sorgenkind, wie schon in einem der ersten Kapitel dargelegt. Man bringt derartige Sujets, weil man das dem Renommee der Firma schuldig zu sein glaubt, und nur 


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die Größten können sich einen derartigen Luxus erlauben. Während ein Drama, sofern es zugkräftig ist, bis zu 150 Auflagen erlebt, wird selbst der beste Naturfilm selten in mehr als 50 - 60 Exemplaren verkauft. Die Unkosten stehen dazu oft in keinem Verhältnis, und erst die ganz moderne reformatorische Entwicklung, besonders die Nutzbarmachung des Films zu Lehrzwecken in der Schule und im Heer, scheinen neue Perspektiven für den Naturfilm zu eröffnen.

Die ersten kinematographischen Aufnahmen waren eigentlich alle Naturaufnahmen, nach unserer oben gemachten Einteilung, indem die Handlung zufällig war oder eine Reproduktion solcher zufälligen Ereignisse zum Zweck kinematographischer Aufnahme. Von dieser Stufe ging die Entwicklung zur Humoreske einerseits, zur modernen Darstellung der Tagesbegebenheiten andererseits. Heute ereignet sich kaum etwas in der Welt, sei es eine Denkmalsenthüllung in Lukau, sei es eine Brandkatastrophe in Neuyork, ein Empfang beim Negerhäuptling oder der Stapellauf eines Schiffes, das nicht flugs vom Film festgehalten und dem Kinopublikum der ganzen Welt mitgeteilt würde. Ein moderner Dichter faßt in der Festschrift zum Regierungsjubiläum des Kaisers alle diese Möglichkeiten in folgende höchst poetischen Verse zusammen:

Heil dem Film—er bringt uns bei
[nicht konvertier-und übersetzbare giechische Zeile]
Meerstürme und der Knospe leise Regung,
Mensch und Wurm in der Bewegung
Und Hurrah - selbst Kaiser Willm
Zeigt der Film.

Reiche Leute legen schon heute Wert darauf, alle wichtigen Handlungen ihres Lebens vor einer kinematographischen Kamera vorzunehmen, um so ihren Memoiren auch Illustrationen "Mein Leben von der Wiege bis zur Bahre" hinzufügen zu können, und diese Mode, die vorläufig noch den Multimillionären vorbehalten ist, hat sicherlich noch eine große Zukunft.

[Randbemerkung: Tagesereignisse] Für die Ereignisse von öffentlichem Interesse spielt der Film die Rolle der Zeitung, und mit den Berichten aus aller Welt kommt der Kino einem Zuge der Zeit "dem über alles unterrichtet sein wollen" entgegen. Da, wo die kinematographische Berichterstattung wirklich die Stelle der Zeitung einnimmt, interessieren die Tages- und Wochenrevuen auch sehr stark. Sind die Bilder erst alt, so ist das flüchtige Interesse an den Ereignissen schon längst wieder verflogen. Es galt ja nur dem Neuesten, der augenblicklichen Gegenwart und nicht dem 


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tatsächlichen Inhalt. Nur sekundäre Momente, z. B. die Umgebung, in der ein Ereignis sich vollzieht, oder die rein bildmäßigen Vorzüge des Films erregen dann noch Interesse. Um einen ganzen Erfolg zu sichern, ist es ausschlaggebend, wer die Neuigkeit zuerst im Film zeigt. Um darin den Rekord zu schlagen, wird bei besonderen Anlässen alles aufgeboten, was menschenmöglich ist. So schloß z. B. die Firma Gaumont anläßlich der Krönungsfeierlichkeiten Georgs V. von England einen Vertrag mit der englischen Eisenbahngesellschaft, wonach ein Waggon als Laboratorium eingerichtet wurde, um den Film, der, schon gleich nachdem die Feierlichkeiten beendigt waren, mit Autos an den Zug gebracht worden war, während der Fahrt nach London im Expreßzug zu entwickeln und fertigzustellen, um ihn noch am selben Abend dem Londoner Publikum zu zeigen. Wenige Stunden nach dem Eintreffen des ersten Telegramms, das von der Feierlichkeit berichtete, sechs Stunden nach der Aufnahme, konnten die Hauptstädter vom Lehnstuhl aus im Kino den Krönungszug ansehen.

Viele Unternehmer haben die schnelle Berichterstattung zu einer neuen Art von Nachrichtenbureau ausgebaut. Anstatt die Zeitung zu lesen, geht der Flaneur der Pariser Boulevards für 10 Centimes ins Pathé Journal, sieht am Eingang die Plakate mit den telegraphisch übermittelten Börsenberichten an, vergewissert sich im Kino über das, was in der letzten Zeit sich in der Welt ereignet hat, und verläßt den Raum im Vollgefühl eines gebildeten, kosmopolitisch interessierten Westeuropäers.

Über dieses Augenblicksinteresse hinaus haben einzelne Films auch für die Nachwelt historischen Wert als wahrheitsgetreues Dokument der Ereignisse unserer Zeit. Vom Direktor der Berliner Urania wurde deshalb verschiedentlich die Anlage eines Filmarchivs angeregt. Doch über eine begrenzte Zeit hinaus würde das Zelluloidband nicht halten, und damit wäre der Wert dann illusorisch.

[Randbemerkung: Landschaftsbilder] Weniger flüchtig und weniger zeitlich gebunden ist das Interesse an den eigentlichen Naturaufnahmen, den Bildern von Gegenden und fremden Völkern. Es entspringt aber im Grunde aus denselben Motiven, wie das vorhin Geschilderte, aus einem Bedürfnis nach Erweiterung des Wissens. Räumte man den Naturaufnahmen einen größeren Platz im Programm eines Abends ein, so würde sicherlich dem Kino eine neue Schicht von Anhängern gewonnen werden; denn fast durchweg herrscht in gebildeten Kreisen ein ganz überwiegendes Interesse für Naturaufnahmen und die Forderung nach einer Reform des 


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Programms in diesem Sinne. Doch auf der anderen Seite würden sie wohl kaum einen Ersatz geben für diejenige Schicht des Publikums, die lediglich der Dramen wegen die Kinematographentheater besucht. Den Erfolg, den eine solche Umwandlung haben würde, kann man einigermaßen an der Bedeutung der Panoramen schätzen, die im Verhältnis zu den Theatern lebender Bilder meist ein äußerst bescheidenes Dasein in irgendeinem Hinterhaus. führen. Man mag einwenden, daß hier das Hauptmoment, die Bewegung fehle. Für reine Naturaufnahmen ist das aber meiner Ansicht nach nicht wesentlich, da der fortlaufende Film nicht immer durch die Darstellung bedingt wird. Bewegung kommt nur bei einem kleinen Teil der Bilder in die Landschaft, durch fließendes Wasser zum Beispiel, und darin besteht in der Tat einer der hervorragendsten Wirkungen kinematographischer Aufnahmen. Ob eine Landschaft in Teilbildern von etwas kleinerem Umfange oder in immerhin auch öfters unterbrochenen Bildern betrachtet wird, ist nicht wesentlich. Dabei soll nicht außer acht gelassen werden, daß die Qualität des im Kino Gebotenen die Panoramabilder meist weit übertrifft. Doch das ist eine durch die große Entwicklung und die kapitalistische Form der Unternehmung bedingte Zufälligkeit, und die große Anziehungkraft des Kino war lange offenbar, als noch der Film das stehende Lichtbild technisch nicht überholt hatte.

Im allgemeinen entspricht die Form der Darbietung von Naturaufnahmen dem Bedürfnis nicht, und so kommt es, daß sie im Grunde für die Mehrzahl der Kinobesucher ein langweiliger Übergang zu den folgenden Nummern sind. Sobald die Handlung aus dem Film verschwindet, wird die Unterhaltung im Saale lebhafter und die Aufmerksamkeit läßt nach.

[Randbemerkung: Wissenschaftliche Aufnahmen] Selbst wissenschaftliche Forscherarbeit ist zum Mittel in dem Apparat der kinematographischen Großunternehmungen geworden. Die französischen Filmfabriken haben eigene Laboratorien, in denen wissenschaftliche Mitarbeiter Experimente machen oder Pflanzen züchten, deren Besonderheiten populäres Interesse haben und ohne weiteres verständlich sind.

Doch weit wichtiger als diese Spielereien ist die Bedeutung des Kinos im Dienst wissenschaftlicher Forschung. Durch seine Nutzbarmachung haben sich ganz neue Möglichkeiten für die Erkenntnis eröffnet, und zwar in besonderem Maße da, wo es galt, ein klares und absolut richtiges Bild von Bewegungsvorgängen zu gewinnen, die sich zu schnell (Vogelflug) oder zu langsam (Wachstum der Pflanzen) abspielen, um 


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in ihren einzelnen Phasen festgehalten werden zu können. Mittels der kinematographischen Aufnahme kann nun die ganze Bewegung in verlangsamter oder beschleunigter Folge der Aufnahmefähigkeit des Auges angepaßt und jede Teilbewegung genau studiert werden.

Der eigentliche Gründer der wissenschaftlichen Kinematographie ist Professor Marey, derselbe, der sich um die Vervollkommnung der kinematographischen Technik überhaupt große Verdienste erworben hat.

Professor Commandon in Paris im Verein mit Pathé Frères gelang es, einen Apparat zu konstruieren, der mikroskopische Aufnahmen ermöglichte, und er stellte die neuen Apparate bei seinen Untersuchungen über die Bewegung des Blutes innerhalb der Gefäße zum erstenmal in den Dienst der Forschung. Heute ist im Marey- Institut eine Zentrale für wissenschaftliche Kinematographie geschaffen, in der bedeutende Gelehrte Gelegenheit haben, mit Hilfe der ausgezeichnetsten kinematographischen Apparate ihren Forschungen nachzugehen. Dabei werden diese selbst immer mehr vervollkommnet. Seit Jahren werden da u.a. von Professor Carvallo Versuche mit der kinematographischen Aufnahme von Röntgenbildern gemacht. Dieses Verfahren gestaltete sich sehr schwierig, da der leicht entzündliche Film eine Lichtstärke von 2000 Kerzen, wie die der X- Strahlen nicht aushält. Doch gelangen ihm spätere Aufnahmen, die die Magentätigkeit wiedergaben. Eykman - Scheveningen und Dessauer - Veifawerke Aschaffenburg brachten mit Hilfe der Röntgenstrahlen die Bewegung des Herzens auf den Film.

Spricht man jedoch im allgemeinen von wissenschaftlicher Kinematographie, so ist meist in erster Linie an seine Eigenschaft als Verbreiter populär - wissenschaftlicher Forschung gedacht, der die Einblicke der Gelehrten in die Vorgänge der Natur, die nur mit großer Ausdauer und Mühe gelingen, einem großen Publikum zugänglich macht. Als Belehrungs - und Bildungsfaktor in diesem Sinne wird der Film augenblicklich vielleicht überschätzt. Es besteht gegenwärtig eine wahre Sucht, Unmassen von Stoff in die Menschen hineinzustopfen, indem man sie z. B. während ihrer Unterhaltung im Kino plötzlich 10 Minuten lang über die Tsetsefliege oder die Brutvorgänge im Hühnerei oder die Fabrikation von Schuhen belehrt. Ganz unterhaltend mag das sein; ebenso kann aber bei einer Überschätzung des auf diese Weise Gewonnenen ein Zustand von Pseudobildung resultieren, der ebenso kulturgefährlich ist, als Kinodramen und Humoresken es sein können. Ein tieferes Begreifen ist bei der Schnelligkeit der Vorführung und bei 


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dem raschen Wechsel der verschiedenartigsten Eindrücke unmöglich, wenn nicht eine Erklärung dazu kommt. Treten wissenschaftliche Aufnahmen dagegen in Form von bloßen Illustrationen zu einem Vortrag oder zum Unterricht hinzu, so verändert sich diese Stellung natürlich.