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II: TEIL / DAS PUBLIKUM

Der Kino und die sonstigen Unterhaltungsmöglichkeiten /

Das Publikum und der Kino / Resultate


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1. DER KINO UND DIE SONSTIGEN UNTERHALTUNGSMÖGLICHKEITEN

So sieht der Kino aus als Produktionsgestaltung! Im folgenden soll nun gezeigt werden, welche Stellung er sich innerhalb der Gesamtheit der Interessen im Leben der einzelnen Individuen erobert hat, und wie sich dabei die verschiedenen Schichten unterscheiden. 1

Innerhalb der einzelnen Schichten heben sich die einzelnen Altersstufen durch einheitliche und charakteristische Merkmale ab, und um diese Verschiedenheit zu zeigen, ist die Untersuchung auch auf die Jugend ausgedehnt worden. Es ist im allgemeinen die Häufigkeit des Besuchs, sowie das stärker oder schwächer ausgeprägte Interesse für die kinematographischen Darbietungen im Vergleich mit den gleichzeitigen übrigen Interessen (Theater, Konzerte, Vorträge und bildende Kunst) zum Maßstab genommen worden. Es ist unmöglich, durch Zahlen allein ein richtiges Bild zu gewinnen, da eine Reihe von äußeren Zufälligkeiten die Richtigkeit beeinflussen und nur eine intensive Fühlungnahme mit den einzelnen diese Lücken ausfüllen kann. So soll denn das statistische Material weniger die Grundlage einer auf deduktive Weise gewonnenen Volkspsychologie abgeben, als vielmehr zur Weiterung der im ganzen gewonnenen Eindrücke dienen. Im allgemeinen gewinnt man auf Grund der Zahlen dasselbe ziemlich einheitliche Bild der verschiedenen Klassen wie auf Grund der übrigen Erfahrungen. 2

Um beurteilen zu können, welche Bedeutung die Kinematographentheater für die Bevölkerung einer Stadt haben, kommt es sehr darauf an, ob sie ganz oder nahezu die einzige Möglichkeit zur Unterhaltung bilden, oder ob andere Vergnügungen das Interesse und die Zeit des Publikums in Anspruch nehmen und fesseln. Deshalb soll hier eine kurze Übersicht der anderen Unterhaltungsmittel, der Theater und Konzertveranstaltungen, vorangesetzt werden.


1 Wie schon im Eingang bemerkt, beziehen sich Untersuchung und Darstellung auf Mannheim.

2 Wegen dieser Übereinstimmung können einzelne Fehlerquellen, z. B. unrichtige Angaben oder falsche Auffassung der Fragen, leicht als solche erkannt und ausgemerzt werden. Schwieriger wird die Aufgabe, wenn bestimmende äußere Faktoren eine größere Gesamtheit gleichmäßig so beeinflussen, daß sie das richtige Bild verschieben. So könnte z. B. die Aufsicht des Lehrers wirken bei den Antworten der Schüler und Schülerinnen; die Mehrzahl scheint jedoch aus ihrem Herzen keine Mördergrube gemacht und der Wahrheit gemäß geantwortet zu haben.


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Bis zum Jahre 1908 gab es noch keine selbständigen Kinematographen in Mannheim. Die Schaulust wurde durch das Hoftheater, ein zweites größeres Theater und drei Spezialitätenbühnen befriedigt. Gelegentlich, anläßlich der Messe oder sonstiger Volksfeste, zeigte auch ein wanderndes Lichtspieltheater einzelne, technisch meist recht mangelhafte Films.

Für die weniger bemittelten Klassen kam das Hoftheater kaum in Betracht, noch viel weniger als heute, wo durch Volksvorstellungen mit billigen Preisen wenigstens ein dünner Faden zwischen dem Theater und einem besonders interessierten Teil der unteren Bevölkerungsschichten gesponnen ist. Weitere Gründe für eine Entfremdung des Theaters mit dem größten Teil der Bevölkerung überhaupt sind in allgemeinen Entwicklungstendenzen der modernen Schaubühne zu suchen. Sie haben sich herausgebildet als Folgen der gesellschaftlichen Spaltung, die mit der gegenwärtigen Form des wirtschaftlichen Lebens entstanden ist.

Die meisten Menschen sind als ein kleines Maschinenteilchen dem großen wirtschaftlichen Gesamtmechanismus eingegliedert, und nicht nur die Arbeit beherrscht dieses System, sondern die Gesamtheit des Individuums wird mit hineingezogen. Die freie, unantastbare Sphäre, in der der Mensch souverän herrscht, ist auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Ein derartiges Leben bildet Berufstypen aus, und es gelingt den einzelnen nur schwer, sich außerhalb des Lebenskreises, in den sie einmal gestellt sind, neue Entwicklungsmöglichkeiten zu suchen. Die Art, sich zu unterhalten, sich zu amüsieren, zeigt innerhalb der einzelnen Schichten bestimmte charakteristische Merkmale, und ein Verstehen über den eigenen Kreis hinaus gibt es kaum, geschweige denn ein Miteinanderarbeiten, ein Miteinandergenießen.

Gegenüber diesen so eingespannten Menschen steht eine ganz dünne Oberschicht solcher, die sich, meist infolge äußerer günstiger Lebensbedingungen, ein größeres Maß innerer Freiheit bewahrt haben. In ihrem ganzen Fühlen und Denken stehen sie von jenen weit entfernt. Für sie bleiben die Objektivationen des geistigen Lebens, wie Bücher und Kunstwerke, keine äußerlichen Dinge. Sie beziehen sie in sich hinein und machen sie zum lebendigen Bestandteil ihrer Persönlichkeit. Durch diese fortgesetzte Assimilation werden sie die Träger der gesamten Kultur, und rückwirkend bestimmen sie ihren Inhalt. Diese einseitige Entwicklung zeigt sich besonders stark am modernen Theater. Man kann das Gesamtrepertoir in drei Gruppen gliedern: Einmal moderne Dramatik, bei der alle Handlung in das Innere des


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Menschen verlegt ist. Im Schürzen und Lösen rein seelischer Konflikte beruht das Drama. Diese Art wird heute an den besten Bühnen, die beinahe den Charakter von Privatzirkeln tragen, gepflegt. Hier sucht jene geistige Oberschicht, die mit ihrem sensibleren Gefühlsleben allein imstande ist, den Dichter zu verstehen, ihre geistige Kost. Daneben stehen klassische Dramen.1 Nun wurzelt aber der Durchschnittsmensch von heute mehr als je in der Gegenwart, und nur für ihre Probleme und Fragestellungen hat er das rechte Verständnis. Rein menschlich liegen ihm die klassischen Sachen nicht recht, und für ein Urteil von künstlerischem Standpunkt aus fehlt den meisten das Verständnis, das erst mit einer gewissen Schulung des Geschmacks möglich ist.

Als dritte Art sind Opern zu nennen, die zahlreiche Anhänger aus allen Kreisen haben und für breite Schichten heute einzig und allein den Begriff des Theaters ausmachen.

Moderne Lustspiele und besonders Operetten finden ebenfalls noch ein großes Publikum. Dem starken Bedürfnis nach leichter Unterhaltung Rechnung tragend, wurden in unserer Stadt in den letzten Jahren von Zeit zu Zeit derartige Aufführungen veranstaltet. In den drei Sälen ihres Festhauses finden auch die meisten großen Konzerte der Saison statt. Daneben aber sorgen Varietés und Kinematographentheater für die Unterhaltung und ziehen auch alle diejenigen vom Theater ab, denen es in der Hauptsache darauf ankommt, ein paar Stunden kurzweilig zu verbringen.— Endlich müssen noch die verschiedenen sich wiederholenden Vortragszyklen erwähnt werden, die während des Winters an verschiedenen Abenden in der Woche einen Teil der Bevölkerung fesseln und deshalb vielleicht eine ablenkende Wirkung auf den Kinobesuch haben könnten.

[Randbemerkung: Die Kinematographentheater] So etwa stand es um den Vergnügungs- und Unterhaltungsapparat der Stadt, als im Jahre 1908 jene Hochflut der kinematographischen Bewegung entstand, die, von den Zentralen ausgehend, auch in den Provinzstädten fühlbar wurde. Hier wie dort derselbe Vorgang: zunächst eine Ablenkung des Publikums von ähnlichen Unterhaltungsmöglichkeiten, von Varietés und Cabarets. Aber neue Möglichkeiten wecken neue Bedürfnisse, und so wuchs die Zahl der Kinematographentheater weit über das Maß ähnlicher Unternehmungen hinaus. Typisch ist die Entwicklung in Berlin, wo zu den 34 Varietés, die es


1 Klassische Dramen, die, meist zu Schüler- oder billigen Volksvorstellungen aufgeführt, für unbemitteltere Schichten einzig in Betracht kommen, scheinen wohl mehr aus diesem Grunde häufiger genannt zu werden und weniger den tatsächlichen Anforderungen des herrschenden Geschmacks zu entsprechen.


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im Jahre 1908 daselbst gab, im Laufe der Jahre noch 300 Kinematographen hinzukamen. Bezeichnenderweise setzte diese Entwicklung nicht gleich nach dem Bekanntwerden der neuen Erfindung ein, sondern erst dann, als das Sensationsdrama eine einschneidende Wendung in die Filmdarstellung brachte und als die Lichtspieltheater aus den dumpfen und engen Räumen in luxuriöse und behaglich ausgestattete Gebäude verlegt wurden. Diese beiden Momente sind ausschlaggebend für die Stellung geworden, die der Kino heute einnimmt. Von dem Punkt seiner Entwicklung an eroberte er sich immer höhere Schichten, er wurde sozusagen hoffähig. Zunächst ging man inkognito hin und genierte sich eigentlich ein bißchen, ,wenn diese Vorliebe in der Gesellschaft bekannt wurde. Von der Stufe bis heute, wo eine Aufführung von "der Andere", mit Bassermann in der Hauptrolle, ein gesellschaftliches Ereignis ist, mußten dann noch ein paar Jahre vergehen. Der moderne Großstädter rechnet heute mit der Erscheinung der Kinematographen als mit etwas Selbstverständlichem, und ein gelegentlicher Kinobesuch gehört ebenso zu seinem Leben wie der five o' clock auf dem Kurfürstendamm.

Diese typische Entwicklung wiederholte sich im Kleinen in den Provinzstädten, so auch in Mannheim. Wie schon bemerkt, verschwanden von drei Varietétheatern im Laufe der Jahre zwei, von denen eins zu einem Kinematographen umgewandelt wurde; außerdem wurden elf neu gegründet. Fünf davon liegen in der inneren Stadt und sieben mehr an der Peripherie. Die meisten sind erst in den letzten drei Jahren entstanden. Charakteristisch ist auch die Lage der Theater. Bis 1910 existierten nur vier Theater in der inneren Stadt und eins in der Neckarvorstadt. Von irgendeiner Differenzierung konnte man damals noch nicht reden. Alle waren sowohl ihrer äußeren Form, als auch der Art der Darbietungen nach für allerprimitivste Ansprüche zugeschnitten. Dementsprechend rekrutierte sich das Publikum auch fast ausschließlich aus den unteren Schichten. Dann aber setzte die rapide Ausbreitung der Kinematographen ein, die sich in Mannheim durch drei Gründungen im Jahre 1910 und durch drei weitere Gründungen im Jahre 1911 bemerkbar machte. Alle diese Theater liegen meist nicht im Zentrum der Stadt, sondern in den Vierteln, in denen der größte Teil des damaligen Kinopublikums, die Arbeiter, wohnten. Zu gleicher Zeit begannen zwei Theater der inneren Stadt sich von den übrigen zu differenzieren durch elegantere Ausgestaltung der Säle, durch Einrichtung teuerer Plätze, durch Einstellung einer Musikkapelle an



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Stelle des Orchesters oder des Einzelklavierspielers. Lage und Ausstattung der Theater, sowie die Höhe des Eintrittgeldes sind aber mehr noch als die Qualität des Dargebotenen ausschlaggebend für die Zusammensetzung des Publikums. 1912 wurde noch ein drittes Konkurrenzunternehmen gegründet.

Dieselbe Erscheinung wie einige Jahre früher in Berlin wiederholte sich jetzt hier: der Kinematograph wurde Mode, ja, man betätigte sich sogar aus den Kreisen der Gesellschaft heraus aktiv an der Lösung seiner Aufgabe. Vom Verein der Künstler und Kunstfreunde wurde eine Musteraufführung veranstaltet, in der an verschiedenen Ausschnitten aus Films die eigenartigen Bildwirkungen gezeigt wurden, die der Kinematographie möglich sind. Diese Hinweise bildeten weniger Vorbilder für die Herstellung guter Programme, als vielmehr eine Erziehung zu künstlerischer Betrachtungsweise, wobei von dem stofflichen Inhalt des Films ganz abgesehen und das Gewicht lediglich auf die Wirkung einzelner Bilder und Bewegungen gelegt wurde.

In der Praxis haben erst einzelne Kinoregisseure Gewicht darauf gelegt, ein Bild zu erreichen, bei dem sich die Linie der sich bewegenden Körper mit dem Hintergrund dauernd zu einem ästhetischen Gesamteindruck vereinigt. Doch damit ist das Gewicht lediglich auf die rein bildmäßige Wirkung des Films gelegt, und die Handlung wird vernachlässigt. Bisher ist eine gewisse Vervollkommnung immer nur auf einem Teilgebiete der Filmdarstellung erreicht.

Die ideale Lichtbildbühne mit einwandfreiem Programm ist trotz aller Bemühungen nicht einmal theoretisch fixiert worden, und so können alle Urteile über Güte und Qualität eines Unternehmens, die hier etwa gefällt werden, nur relative Bedeutung haben. Die drei obengenannten Theater der inneren Stadt, die übrigens im Gegensatz zu den Privatunternehmungen der Vorstädte im Besitz von größeren Theatergesellschaften sind, unterscheiden sich von den kleineren in der Hauptsache durch äußere Aufmachung. Immerhin sind auch mit Rücksicht auf das Ansehen des Unternehmens aus dem Programm die schlimmsten Schauermären ausgemerzt, und statt dessen nehmen Naturaufnahmen einen etwas breiten Raum ein.

Die übrigen, meist in den Vorstädten verstreut liegenden Kinematographentheater unterscheiden sich untereinander nur durch geringe Nuancen, deren wesentlichste die mehr oder minder gute Lüftung ist. Sie bieten alles, was Schauer und Sensationslust nur verlangen können, und entsprechen dem Typ, der als verderblich und geschmack-


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verbildend von vielen Seiten angefeindet wird. Grell leuchtende Plakate mit sensationellen Titeln, die oft noch für ein besonders abgehärtetes Publikum eigens abgeändert werden,1 bedecken ganze Häuserfronten. Wie tief das Niveau ist und mit was für Besuchern sie rechnen, das charakterisiert besser als alle Beschreibungen folgender Anschlag in einem der Säle: "Das Demolieren der Stühle und Bänke ist verboten."

Jeder, der einmal durch die Vorstädte gewandert ist, kennt diese Art von Höhlen. Diese sind nicht besser und nicht schlimmer als der Durchschnitt und letzten Endes immer den Bedürfnissen des Publikums angepaßt, das bis zu einem erschreckenden Maße kritiklos und indifferent sich unterhalten läßt, solange das Dargebotene keine geistige Anstrengung erfordert.

Die zwölf Kinematographentheater haben zusammen etwa 4500 Sitzplätze bei einer Bevölkerung von rund 204 000 Seelen. Mit dieser Anzahl scheint ein gewisser Sättigungsgrad erreicht zu sein, bei dem weitere Theatergründungen nicht mehr rentieren; denn ähnlich ist das Verhältnis in einer Reihe von Industriestädten. Damit ist aber schon eine Verbreitung und Popularität erreicht, hinter der alle anderen Vergnügungsarten weit zurückbleiben. Ein einziges Kinotheater (allerdings eins der größten) wird allabendlich von ebensoviel Menschen besucht als das Hoftheater. Von der Zahl der ermittelten Sitzplätze ausgehend und auf Grund der Statistik der verschiedenen Theater berechnet, kann man demnach folgern, daß rund 7500 Menschen allabendlich im Kino sitzen.2 Diese Zahl von Besuchern wird von der Gesamtheit der übrigen Vergnügungsstätten nicht einmal erreicht, wenn z. B. mehrere Veranstaltungen zu gleicher Zeit stattfinden.

Die Höhe der Kinobesuche an den einzelnen Wochentagen scheint ganz bestimmten Gesetzmäßigkeiten zu unterliegen, was sich mittels einer Kurve deutlich feststellen läßt, und zwar ist ihr Verlauf verschieden je nach der Lage des Theaters im Zentrum oder in Arbeitervierteln. Bei den ersteren fällt die Minimalfrequenz mit größter Regel-


1Gänzlich neue Titel dürfen dem Gesetz nach nicht gegeben werden. Man sucht sich zu helfen, indem man von den meist zahlreichen Untertiteln denjenigen auswählt, von dem man sich für die betreffende Gegend den größten Effekt verspricht, und ihn mit großen Lettern an die Spitze des Programms setzt.

2 Nach den exakteren Ermittlungen auf Grund der Kartensteuer in anderen Städten erscheint diese Zahl viel zu hoch. Vgl. Franz Bergmann, Gemeinde und Kino. Demnach fallen in einer Reihe von Städten auf jeden Einwohner 6-8 Kinobesucher jährlich. Hiernach 13.



 

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mäßigkeit auf den Freitag.1 Der Grund dafür ist nicht ohne weiteres zu erkennen. Vielleicht müßte man zur Erklärung eine Psychologie der einzelnen Wochentage aufstellen. Der Freitag ist eine Art Vorbereitung, ein Warten auf die Ereignisse des meist ausschließlich dem Vergnügen vorbehaltenen freien Samstagnachmittag und Sonntag.

Der Freitag ist von jeher in hohem Maße der Arbeit gewidmet, vielleicht gerade, um den Reiz der kommenden Ruhetage zu erhöhen. Der Samstag selbst, besonders seit Einführung des früheren Geschäftsschlusses, geht dagegen schon halb in den Sonntag über. Ein konkreterer Grund wäre vielleicht noch die Tatsache, daß Freitag von alters her in den

Mehrzimmerwohnungen Putztag ist, an dem die Frauen des kleinbürgerlichen und Mittelstandes, die besonders in den hier in Betracht kommenden Theatern einen großen Teil des Publikums bilden, von häuslichen Pflichten in Anspruch genommen sind.

In der Kurve der Vorstadtkinos liegt das Minimum des Besuchs Donnerstags, an dem wohl meist das Geld schon knapp geworden ist, während am Freitag, am Lohntag, die Frequenz wieder stärker ist. Die Mehrzahl der Besucher dieser Theater sind Arbeiter, also Leute, die mit beschränkten Mitteln rechnen müssen und am Donnerstag den Wochenlohn meist aufgebraucht haben. Für die Mehrzahl bildet aber der Besuch im Kino scheinbar das Sonntagsvergnügen. Für diejenigen, die die Woche über in ihre Arbeit eingespannt sind, ist der Aufenthalt im Kino die einzige Zeit völliger Loslösung aus der Tretmühle des Alltags. Alle anderen Möglichkeiten sind kostspieliger (wie z. B. ein Theaterbillett) oder schwieriger zu erlangen (wie z. B. Ausflüge). Lichtspieltheater aber sind in allen Stadtvierteln zu finden. Alle Kinematographen sind deshalb an Sonntagen jenem Teil des Publikums vorbehalten, die eben nur dann Zeit dazu haben. Und nicht nur die Etablissements der Vorstädte, auch die bürgerlichen der inneren Stadt weisen an Sonntagen eine drei- bis viermal so große Zahl von Besuchern auf als an einem Wochentage. Im Sonntagsanzug kann man sich ja überall sehen lassen, und deshalb bezahlt man gerne den größeren Komfort der besseren Theater mit ein paar Pfennigen.

An den übrigen Wochentagen weist der Besuch geringere, jedoch auch ebenfalls ziemlich regelmäßige Schwankungen auf. 2


1 In gleicher Weise wie in Mannheim verläuft die Kurve in den Heidelberger Kinematographentheatern.

2 Das im Sommer 1912 erlassene Verbot betreffend den Besuch der Kino durch jugendliche Personen veranlaßte verschiedene Besitzer, besondere Kindervorstellungen an schulfreien Nachmittagen einzuführen, um so den durch diese Maßnahmen entstandenen Ausfall zu decken. Dadurch steigt die Kurve z. B. am Mittwoch besonders hoch, während sie, wenn man die erwachsenen Besucher allein berücksichtigt, eher die entgegengesetzte Tendenz zeigt.



 

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Dieser Einfluß der Wochentage auf die Höhe des Besuchs ist das einzige Moment; das die Bewegung der Kurve gleichmäßig beeinflußt. Keinerlei andere Umstände, wie: Wetter, gleichzeitige, stark besuchte Veranstaltungen im Theater oder Rosengarten, ebensowenig wie die Festwoche vom 1.-12. Mai oder besondere Programme, vermögen diese Gesetzmäßigkeit zu durchbrechen. Höchstens wirken diese Umstände in einzelnen Fällen innerhalb der Regelmäßigkeit der einzelnen Wochentage steigernd oder verringernd. Das gilt in erster Linie von bestimmten Programmen. Doch läßt sich nur in einzelnen Fällen überhaupt einer der oben erwähnten Einflüsse nachweisen. Wahrscheinlich ist der außerordentlich starke Kinobesuch an einigen Tagen, für die sich irgendwelche maßgebenden Faktoren nicht nach weisen lassen, auf das Regenwetter zurückzuführen. Langeweile und Tatenlosigkeit stellen sich da besonders leicht ein, und das ist für viele gerade die richtige Stimmung, um in den Kino zu gehen. Auch aus den Fragebogen geht hervor, daß schlechtes Wetter geradezu die Ursache eines Kinobesuches wird. Doch die so veranlaßt werden, machen nicht das Gros aus. Wenn auch der Einfluß einzelner Regentage nicht immer besonders steigernd wirkt, so flaut doch andrerseits in den Sommermonaten das Geschäft sehr ab, und daraus erklären sich die vielen Pleiten in der warmen Jahreszeit.

Daß Theater und Konzertveranstaltungen keinen sonderlichen Einfluß ausüben, ist leicht verständlich, wenn man erwägt, daß zwei Kinematographenunternehmer allein schon täglich fast ohne Ausnahme mehr Besucher haben als Hoftheater und Rosengarten zusammengenommen, und es gibt deren zwölf. Im allgemeinen wird der einzelne Mensch in seinen Überlegungen auch selten in Konflikt kommen zwischen Theater und Kino, weil beide ganz verschiedenen Stimmungen entsprechen. Das gilt in noch höherem Maße von Konzerten. Auch sie üben deshalb keine ablenkende Wirkung aus. So fiel z. B. das Maximum des Kinobesuchs in zwei Monaten jedesmal mit drei gleichzeitigen, stark besuchten Konzerten im Rosengarten zusammen.

Noch weniger vermögen wissenschaftliche Vorträge den Kinematographen etwas anzuhaben.

Infolgedessen liegt der Schluß nahe, daß das Kinopublikum sich im allgemeinen aus anderen Kreisen rekrutiert als das der übrigen Ver-



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anstaltungen. Wo lebhafte musikalische oder wissenschaftliche Interessen das Individuum in starkem Maße bestimmen, da scheint die suggestive Macht des Kinos weniger wirksam zu werden.

Worin beruht aber der große Reiz, der ihm dennoch die zahlreiche Anhängerschaft sichert?

Wodurch hat er ein Publikum gewonnen, das bisher vollständig indifferent war gegen jede Art von Darstellungen? Man bedenke, daß man sich ein Filmschauspiel nicht etwa vom Biertisch aus ansehen kann, wie eine Varieténummer oder wie man anderswo etwa als Beigabe die indischen Nachtigallen oder eine Schliersee Bauernkapelle genießt.

Wodurch sichert er sich den immer zunehmenden Besuch auch der gebildeten Schichten ?

Zunächst soll auf allgemeine Ursachen eingegangen werden, um sodann diejenigen Stücke zu betrachten, die sich als besonders zugkräftig erwiesen haben.

Wird die Frage nach dem zunehmenden Kinobesuch aufgeworfen, so lautet die Antwort meist: "Das Eintrittsgeld ist niedrig, man kann jederzeit und ohne besondere Vorbereitung hingehen", endlich wird die stark sinnliche Tendenz der meisten Stücke, die durch die begleitende Musik noch verstärkt wird, sowie die im Kino herrschende Dunkelheit als anreizend hervorgehoben. Sicherlich beruhen darin zum Teil seine geheimen Anziehungskräfte. Doch erst mit vielen anderen Ursachen zusammen, die Ausflüsse des Gesamtcharakters unserer Zeit sind und auch das Publikum besonders prädisponieren, vermögen sie eine derartige Wirkung zu haben.

Gewiß spielt das niedrige Eintrittsgeld eine große Rolle; denn ob jemand, der selbst mit kleinen Beträgen rechnen muß, fünfundsiebzig Pfennig für den unbequemsten Platz im Theater ausgibt oder im Kino für weniger schon in einer Loge sitzt, ist ein Unterschied. Ersieht man aber aus den Fragebogen, daß fast ein Drittel der Kinobesucher, selbst aus den minderbemittelten Schichten, wöchentlich ein oder selbst mehrere Male in ein Kinematographentheater geht, im ganzen also eine ebenso große Summe für Vergnügungen ausgibt als ein Theaterbesuch ein  bis zweimal im Monat kosten würde, so wird dieses Argument wesentlich abgeschwächt. Stichhaltiger ist schon der zweite Grund: Das Nichtgebundensein an eine bestimmte Zeit.1 We-


1 Der gilt auch nur in beschränktem Maße; denn die meisten Fachleute versichern, daß der herrschende Geschmack sich auf möglichst lange Dramen richtet, die oft am Abend nur einmal gespielt werden und zu einer bestimmten Zeit anfangen.


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sentlicher jedoch erscheint mir, daß beide, der Kino und seine Besucher, typische Produkte unserer Zeit sind, die sich durch ein fortwährendes Beschäftigtsein und durch eine nervöse Unruhe auszeichnen. Der tagsüber im Beruf angespannte Mensch befreit sich von dieser Hast selbst dann nicht, wenn er sich erholen will. Im Vorbeigehen sucht er im Kino für kurze Zeit Zerstreuung und Ablenkung und denkt dabei schon halb an das, womit er die nächsten Stunden ausfülle. Um in ein Kunstwerk, sei es ein Drama, sei es ein Musikstück oder ein Bild, einzudringen, gehört eine gewisse Muße und Willensanspannung. Diese Konzentration verlangt der Kino nicht. Er wirkt mit so starken Mitteln, daß selbst erschlaffte Nerven aufgepeitscht werden, und die schnelle Folge der Ereignisse, das Durcheinander von verschiedenartigsten Dingen lassen keine Langeweile aufkommen. Doch nicht nur die Form, unter der der Kino auftritt und die sein Lebenselement ist, auch der Inhalt der Kinodarstellungen entspricht ganz und gar dem Bedürfnis einer breiten Masse. Daß gerade erotische und Verbrecherfilms soviel Publikum fesseln, ist ganz erklärlich; sind sie doch allein geeignet, in Menschenmassen, in denen oft jedes geistige Leben in tiefem Schlummer liegt und die untereinander auf höheren Gebieten jedenfalls nichts Gemeinsames haben, die einzig verwandten Saiten anzuschlagen. Es ist ein Verstehen auf der gemeinsamen Basis niedriger Gefühle, das Heine empfand, als er sagte: "Selten habt ihr mich verstanden, selten auch verstand ich euch, doch wenn wir im Kot uns fanden, da verstanden wir uns gleich!" Neben diesen besonderen Reizen kommt noch ein anderer Grund für die große Beliebtheit sehr in Betracht. Das Kinodrama hat da eingesetzt, wo die Theaterliteratur eine Lücke gelassen hat: Heute stehen Handlungsdramen sehr niedrig im Kurs und doch entsprechen sie dem, was ein großer Teil des Publikums sucht und in den Kinotheatern gefunden zu haben scheint. Eine Fülle von Ereignissen, ein bunter Wechsel des Geschehens, das sind die Hauptmerkmale des Kinodramas, und diejenigen, die solches suchen, kommen hier auf ihre Kosten. Die besondere Eignung der kinematographischen Technik hat das Kinodrama auf diesen Weg gebracht und ihm seine Beliebtheit verschafft. Man mag hier einwenden, daß historische und klassische Bühnendramen ebenso reich an äußeren Handlungen sind. Sie werden deshalb auch relativ noch am meisten geschätzt, weil sie verstanden werden. Im allgemeinen ist aber die gegenwärtige Generation nicht besonders stark historisch interessiert, und die sozialen Probleme der Gegenwart beschäftigen alle viel leb-


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hafter. Diese Stoffe aber sind die Grundlage der meisten Filmdramen. Sie werden da nicht in abstrakter Form behandelt, sondern in möglichst starker Typisierung an konkreten Beispielen gezeigt. Ob das Gebotene künstlerisch einwandfrei ist, ob nicht, steht hier nicht zur Erörterung. Jedenfalls geht es mit dem Strom der Zeit, ist der Ausfluß eines Allgemeinempfindens. Von einer Seite betrachtet, ist das Interesse für Zeitungsneuigkeiten, für Wochenberichte im Kinobild gar nicht so verschieden von dem Interesse an Kinodramen. Sicher ist eine starke Ursache die Hingabe an die Gegenwart. Das Filmdrama kommt zu den Menschen in ihren Alltag hinein. In dieser Darstellung des Lebens können vielleicht außerordentliche künstlerische Leistungen zur Entfaltung kommen. Welche Wege die Entwicklung nehmen wird, das ist heute noch nicht abzusehen; jedenfalls wird sie der modernen Theaterliteratur entgegengesetzt sein.

Die Eigenschaften, die das Kinodrama auszeichnen, sind ja schon genannt, und je ausgesprochener dieses typisch Eigenartige in ihm zum Ausdruck kommt, um so mehr fesseln sie.

Betrachtet man diejenigen Programme, die sich als besonders zugkräftig erwiesen haben, so läßt sich dieser Erfolg meist auf bestimmte Dramen zurückführen.1 Solche Bevorzugung erfuhren z. B. ausnahmslos in den besseren Theatern die Asta Nielsen  Dramen. (Dagegen war die Wirkung in der Vorstadt umgekehrt. Bei dem Film "Zu Tode gehetzt", mit Asta Nielsen in der Hauptrolle, sank da die Besucherzahl sogar unter den Durchschnitt.) Eine fast ebenso hohe Frequenz hatte ein Programm mit dem Schlager "In der Nacht des Urwalds", da dieses Stück auch auf den Fragebogen immer wieder genannt wird

All diese Kassenstücke (es waren neben den Asta Nielsen Dramen "Das Weib ohne Herz", "Abgründe" und "Fräulein Frau") haben gewisse einheitliche Züge gemeinsam. Es sind ausschließlich Dramen, und zwar Dramen von deutschen Firmen 2, die so im Mittelpunkt des Interesses stehen. Nun stammen allerdings die meisten großen Dramen, die aufgeführt werden, von inländischen Firmen, schon deshalb, weil die im Durchschnitt etwas billiger verkaufen. Ferner scheint auch eine gewisse Anpassung an den nationalen Geschmack in der ganzen Art der


1 Entweder dauert der hohe Besuch während der Vorführungszeit eines bestimmten Stückes an, obwohl alle übrigen Programmnummern wechselten, oder aber gerade die in Frage kommenden Stücke werden besonders oft auf den Fragebogen genannt.

2 Die Asta Nielsen Dramen läßt eine Frankfurter Gesellschaft allerdings in Dänemark inszenieren.


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Stücke die günstigste Vorbedingung für großen Erfolg zu sein. Von einem international gefärbten Geschmack kann man bei der Mehrzahl der Kinobesucher heute wenigstens noch nicht sprechen. Alle Stücke, zu denen Anknüpfungspunkte aus dem eigenen Milieu heraus gefunden werden, sei es, indem sie das eigne Leben schildern, so wie es ist oder so wie sie es sich wünschen, gefallen am besten und lassen stärker mitempfinden. Empfinden ist hier aber alles, denn die Filmdarstellung wirkt ganz unmittelbar, indem sie den Zuschauer mit fortreißt und die Schicksale des Helden mit erleben läßt. Ausländische Films vermögen dieses Interesse weniger leicht zu erregen, weil sie, von einem fremden Geiste getragen, nur selten verwandte Saiten anschlagen.

Inhaltlich behandeln alle Stücke die Frage, die heute nicht nur für den Film, sondern auch in aller Kunst Gegenstand der Darstellung ist, und dieser Inhalt bewirkt in erster Linie ihre Popularität. Im Brennpunkt des Interesses stehen soziale Fragen. Meist wird in diesen Dramen der Kampf einer Frau geschildert zwischen ihren natürlichen, weiblich sinnlichen Instinkten und den diesen entgegenstehenden sozialen Zuständen. Auf der einen Seite steht für sie das Dirnentum, auf der anderen die Möglichkeit einer Ehe an der Seite eines Mannes, der meist einer bedeutend höheren oder niedrigeren sozialen Stufe entstammt.

Die Einzelheiten der Handlung, so die stark sinnliche Tendenz einzelner Szenen, zu denen die Stoffe häufig Veranlassung geben, verfehlen ihre Wirkung nicht und sind die Ursache zu einer besonderen Bevorzugung dieser Stücke.

Diese Art Dramen sind so ausschlaggebend für die Kinos überhaupt, daß mit ihrer Beliebtheit innerhalb einzelner Berufsgruppen die Frage nach deren Gesamtstellung zum Kino schon beantwortet ist. Doch in dem nun folgenden Hauptkapitel soll deren Stellung in und zu der großen Gesamtbewegung im einzelnen näher betrachtet werden.