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2. DAS PUBLIKUM UND DER KINO

[Randbemerkung: Kinder] Die Übereinstimmung zwischen der Intensität des Interesses für Dramen und für den Kino im allgemeinen findet sich am wenigsten ausgeprägt bei Kindern, bei denen auch der Rückschluß von der Häufigkeit des Besuches auf die Lebhaftigkeit des Interesses am gewagtesten erscheint, da sie ja noch nicht absolut selbständig über sich bestimmen und auch das notwendige Geld nicht so ohne weiteres zur 


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Verfügung haben. Immerhin beträgt der Prozentsatz derer, bei denen auf absolute Interessenlosigkeit hinsichtlich der Theater, Konzerte, Vorträge, Varietés und Kinos geschlossen werden muß, nur 20%. Dieses negative Resultat aus einer bestimmten Milieuwirkung erklären zu wollen, ist unmöglich; denn es befinden sich Kinder sowohl von gelernten und ungelernten Arbeitern, als auch von Handwerkern und kleinen Beamten darunter. Vielmehr dürfte die Ursache in psychologischen Momenten, in einer gewissen Stumpfheit der Kinder gegen die umgebende Welt zu suchen sein.1

Zwar sind auch bis zu einem gewissen Grade der sozialen Lage der Eltern nach die Möglichkeiten für die einzelnen verschieden. Für die Mehrzahl ist zum Beispiel ein Theater oder Konzertbesuch erreichbar, für andere wieder ist der Kino die einzige Art der Unterhaltung. Wo immer überhaupt die Schaulust erwacht, da wendet sie sich zuerst dem nächstliegenden, dem Kino, zu. 79% aller von uns befragten Knaben, 33% der Mädchen sind überhaupt im Kino gewesen.2

Solche, die schon in Theatern, Konzerten, Vorträgen, Varietés oder Zirkus waren und niemals in einem Lichtspieltheater, findet man kaum.

Häufiger tritt dagegen der umgekehrte Fall ein. Der Trieb, der sie zu beiden bringt, der Hunger nach Sensation, nach etwas, das anders ist als der Alltag, nach Stoffen, an denen die Phantasie sich berauschen kann, übt keine weitere Kritik an dem Mittel, das diese Eindrücke verschafft. Der Kino entspricht diesen Anforderungen mindestens so gut wie eine Aufführung im Theater. Was für die meisten nur als ein Bild der Vorstellung existierte, das rückt der Film greifbar nahe, verwegene Ritte über die Steppe, ein Brand im Präriewald, die Flucht eines Verbrechers über Dächer und Mauern. Nur selten einmal steht ein Junge dem Film so objektiv gegenüber, daß er z. B. die Unwirklichkeit und Unmöglichkeit solcher Handlungen kritisiert. Diese 


1 Eine solche Unterschicht von etwa 20% findet sich in allen Altersstufen und in fast allen Berufen; nur wird sie etwas kleiner mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, wodurch alle äußeren Hemmnisse, die den etwa vorhandenen Interessen entgegenstehen könnten, beseitigt werden. Sitte und die Einflüsse der Gesellschaft ziehen später auch den Außenstellenden in den Strom der Vergnügungen mit hinein. Stärker wirken diese Einflüsse der umgebenden Gesellschaft auf das hier in Frage Stehende, auf Theater und Konzertbesuch, natürlich in solchen Schichten, wo beides zur Tradition geworden ist, schwächer in den traditionslosen Proletarierschichten, in denen nach und nach neu entstandene Kräfte innerhalb der Klasse diesen Antrieb geben.

2DiesVerhältnis zwischen Knaben und Mädchen entspricht auch den Beobachtungen bei Kindervorstellungen. 


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Freude am Sensationellen ist aber nicht erst mit dem Kino großgezogen worden; sondern sie ist uralt.1 In dem Maße, in dem das enge Zusammenleben in Großstädten die Möglichkeit zum Selbsterleben solcher Abenteuer beseitigt hat, werden Surrogate an deren Stelle gesetzt. Die eigene Aktivität wird immer mehr ausgeschaltet; denn es fehlt der Großstadtjugend überhaupt die nötige Umgebung, der nötige Platz zu derartigen Spielen und Streichen. So konnte der Film nach und nach zu einem immer beherrschenderen Faktor im Leben der modernen Jugend werden, der weitgehenden Einfluß auf die gesamte psychische Entwicklung ausübt. Das wird in um so stärkerem Maße der Fall sein, je weniger entgegenwirkende Hemmungen, wie die Erziehung und die dadurch vermittelten andersartigen Stoffe, die Phantasie in gesunde Bahnen lenken. Deshalb ist es nicht weiter überraschend, daß der Kino die größte Macht da gewonnen hat, wo eine beeinflussende Erziehungsarbeit am wenigsten vorausgesetzt werden kann, d. i. in der untersten Proletarierschicht. Die eifrigsten Kinobesucher, nämlich solche, die wöchentlich mindestens einmal im Kino sind, es waren das 22% aller Knaben und 5% aller Mädchen, entstammen zum großen Teil solchen Familien, deren unsichere wirtschaftliche Existenz keinen geeigneten Boden für die psychische und verstandesmäßige Ausbildung der Kinder abgibt. Vierzehn von den zwanzig Knaben, die wöchentlich mindestens einmal im Kino waren, sind Kinder von Tagelöhnern, oder sie haben überhaupt keinen Vater.

In diesen Frühjahren der Entwicklung sind selbst die unmittelbaren Erlebnismöglichkeiten bedingt durch das Maß der geistigen Reife, und der mehr oder minder großen Intelligenz entspricht deshalb im Durchschnitt auch ein ziemlich einheitlicher Geschmack. Am eindeutigsten ist diese gruppenweise Übereinstimmung der Kinder bei denjenigen, die auf dem niedrigsten Niveau standen.2 Bei ihnen fand sich, besonders bei den Knaben, durchgehend das bei weitem intensivste Interesse für Kino und zugleich die geringste relative Frequenz von Theatern, Konzerten und Vorträgen. Soweit derartige Eindrücke überhaupt von einer gelegentlich besuchten "Tell" Vorstellung oder einer Märchenaufführung vorhanden waren, war, besonders bei den Knaben, nur eine dunkle Erinnerung daran bewahrt, die häufig noch mit dem Inhalt von irgendwelchen Kinodramen vermengt wurde. Für diese Kinder bedeuten die Lichtspieltheater die Welt. Sie ersetzen ihnen alles, was


1 Siehe letztes Kapitel.

2 Schüler und Schülerinnen der Förderklassen.


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den in günstigeren Lebensbedingungen Aufgewachsenen durch Theater und Konzertbesuche, durch Ausflüge und alles übrige gegeben wird. Für sie spielt sich im übrigen das Leben in den dumpfen Wohnungen, den engen Straßen der Großstadt ab. Die Knaben haben inmitten dieser Verwahrlosung für ihre Person viel Freiheit. Bis zum Eintritt in den Beruf sind sie mehr oder weniger sich selbst überlassen, und es ist ihnen leicht, sich die wenigen Groschen zu verdienen oder zu stehlen, die ihnen den Besuch einer Kinovorstellung ermöglichen. Wie häufig gerade dieser letzte Weg beschritten wird, darüber geben die Berichte der Jugendfürsorgestellen Auskunft.

Die Mädchen dieser Klasse sind viel gebundener. Sie haben meist schon eine Reihe von häuslichen Pflichten zu erfüllen oder die jüngeren Geschwister zu warten. Bei einer derartigen Inanspruchnahme der freien Zeit kann natürlich der Kino keine so überragende Bedeutung erlangen wie bei den Knaben. Daher erklärt sich die relativ kleine Zahl der Besucherinnen, sowie die Seltenheit des Besuchs bei den einzelnen.

Überhaupt liegt ihnen der Stoffkreis der Kinematographentheater ferner.

[Randbemerkung: Geschmack der Knaben] Indianer  und Trappergeschichten verkörpern für die Knaben, besonders für die mit primitiverer geistiger Entwicklung, die höchsten Genüsse1, während das stärkere Hervortreten von Kriegs-  und Soldatenstücken, ganz im allgemeinen bei jüngeren Leuten, als das Charakteristische der nächst höheren, hier der begabteren Schicht betrachtet werden kann.

Im übrigen bleibt sich der Stoffkreis ziemlich gleich; nur scheinen bei den Begabteren die Theater  und Konzertinteressen etwas intensiver zu sein.2 Von etlichen besonders frühreifen Kindern werden auch Liebes  und soziale Dramen genannt von nicht gerade einwandfreier Qualität im Geschmack etwa der "Sündigen Liebe" und "Halbwelt". Wo einmal besonders viel Naturaufnahmen aufgezählt werden, kommen darin in stärkerem Maße die Einflüsse der Schule, sowie eine bestimmte Art der Erziehung zum Durchbruch.

Auch zeigen diese Kinder aus scheinbar besser situierten Kreisen schon mehr Sinn für die Umgebung, und bei der Wahl der Kinematographentheater werden sie von der Rücksicht auf einen gut eingerichteten und gelüfteten Saal geführt, während den übrigen lediglich


120mal werden derartige Stücke genannt, nur 3mal andere.

2Sie fanden sich ausschließlich in den beiden Oberklassen, besonders in den Sprachklassen.



 

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das lange Warten vor den überfüllten kleinen Theatern Eindruck macht und sie bestimmt, ein größeres aufzusuchen, wenn dabei ihre Vorliebe für Räuber  und Indianergeschichten auf ihre Rechnung kommt.

Ist der Geschmack, der in der Auswahl der Stoffe zum Ausdruck kommt, nun eine Folge oder die Vorbedingung des außerordentlich lebhaften Kinobesuchs? Ich wage das nicht ohne weiteres zu entscheiden. Jedenfalls ist klar, daß bei dieser Vorliebe der Kino die Stätte des Haupterlebens bildet.

[Randbemerkung: Geschmack der Mädchen] Die schwärmerisch sentimentalen Stücke, die diesem Alter bei den Mädchen entsprechen, werden selten gegeben, besonders nicht in Kindervorstellungen. Gehen die Mädchen einmal in eine Vorstellung, so ist es weniger das reine Interesse an gerade diesem Programm, das sie dazu veranlaßt; vielmehr genießen sie es wie viele andere Vergnügungen, zu denen sie, meist von den Eltern, mitgenommen werden, während die Knaben den Kino meist auf eigene Faust, besonders gerne mit ihren Kameraden besuchen. Die Mädchen gehen auch nicht so restlos in den Erlebnissen auf, und die im Theater oder in Konzerten gewonnene Anregung, besonders die Erinnerung an Märchenaufführungen, wird weniger zurückgedrängt und beschäftigt sie scheint's stärker als alle Filmdarstellungen.

Die Musik scheint auch im Kino die Hauptanziehungskraft für sie zu sein, und darin kommt ein Zug zum Ausdruck, der fast allen weiblichen Kinobesuchern gemeinsam ist. Die Vielseitigkeit der Programme scheint sie zu verwirren, und aus den durcheinanderflutenden Vorstellungen konnten sie sich keine bestimmten Stücke mehr ins Gedächtnis zurückrufen. Nur ganz allgemeine Angaben, wie: "am besten gefallen mir die Witzchen'' oder die "Geschichten" oder "wenn was zum Lachen kommt", werden gemacht, und irgendein bestimmter Geschmack hinsichtlich der Films scheint nicht vorhanden zu sein. Vielleicht lassen sie sich auch in ihrem Geschmack und ihren Neigungen mehr von den Lehrern beeinflussen, die in den Schulen eine Agitation gegen den Kino betrieben haben, die später in vielen Städten zum vollständigen Verbot des Besuchs für Kinder führte.1 Die eigens eingerichteten Kindervorstellungen an schulfreien Nachmittagen, aus der die Zensur alle aufregenden Stoffe entfernt hat, sind


1Zur Zeit dieser Enquete war in Mannhelm kurze Zeit vorher eine derartige Bestimmung von der Polizeiverwaltung erlassen worden, nach der Kinder unter 16 Jahren zu den gewöhnlichen Vorstellungen keinen Zutritt mehr haben.


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den echten Großstadtjungen zu "fad", und sie finden immer noch Mittel und Wege, auch bis in die späten Abendstunden hinein im Kino zu sitzen.

In welchem Maße gerade die Jugend an der Ausdehnung der Kinematographentheater beteiligt ist, das zeigen neben diesem Enquetematerial auch die in den Theatern geführten Statistiken. An manchen Tagen übertraf die Zahl der Kinder sogar die Zahl der erwachsenen Besucher, und wenn nicht der durch das Kinderverbot erlittene Ausfall ein ganz beträchtlicher wäre, würden die Theaterbesitzer sich nicht zu den endlosen Protestversammlungen veranlaßt sehen, die die Aufhebung dieser Bestimmungen bewirken sollen. Dazu werden alle möglichen Argumente ins Treffen geführt, vor allen Dingen die Überschreitung der polizeilichen Befugnisse gegenüber der elterlichen Gewalt. Doch gerade bei den Kindern und jungen Leuten, bei denen der Kino durch alleinige Herrschaft zu einer Gefahr wird, unter dessen Einfluß alle anderen Interessensphären verkümmern, kann von einer solchen wohl kaum die Rede sein, und diese Elemente bedürfen am ehesten der staatlichen Bevormundung.

[Randbemerkung: Jugendliche Arbeiter ]Die schon in der Volksschule sich bemerkbar machende Trennung zwischen den Interessen der Begabteren und der minder Begabteren scheint auch nach der Schulzeit sich noch weiter fortzusetzen und zu verschärfen und die einen mehr in die gelernten Berufe der Arbeiter und Kaufleute, die anderen in die der Gelegenheitsarbeiter oder der nur ungelernten Arbeiter hineinzuführen. Wenigstens bedeutet diese letzte Gruppe hinsichtlich des gesamten in ihr zum Ausdruck kommenden Geschmacks eine direkte Fortsetzung der Förderklassen in den Volksschulen, nur daß mit der größeren Freiheit nach dem Austritt aus der Schule die einseitigen Interessen, besonders für kinematographische Vorstellungen, nur noch ausschließlicher von ihnen Besitz ergreifen. Diese verschiedenen Berufe entsprechen auch meist einer ganz bestimmten Herkunft. So sind die letzteren meist Söhne von Tagelöhnern oder Fabrikarbeitern, die Bureaugehilfen und Feinmechaniker meist Söhne von kleinen Handwerkern und Beamten. Drei Typen kann man unter den jugendlichen Arbeitern unterscheiden:

1. Eine unterste Schicht derjenigen, die nicht an eine bestimmte Berufsgruppe gebunden sind, bei denen der Beruf scheinbar mehr Zufall ist.


1Hauptsächlich Schüler der Fortbildungsschule, (die gelernten Berufe finden sich viel mehr in den Gewerbeschulen ), und da sind es vor allen Dingen die Klassen der Metallarbeiter, Milchhändler und Gelegenheitsarbeiter. 


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2. Eine Gruppe, die ich als charakteristisch proletarisch bezeichnen möchte, und die sich zum großen Teil aus Metallarbeitern zusammensetzt.

3. Eine kleinbürgerliche Schicht, die durch Bureaugehilfen, Mechaniker repräsentiert wird. Wildwest, Verbrecherkönig Zigomar, Ringkämpfer, Seiltänzer! Damit wäre der gesamte Interessenkreis der jugendlichen Arbeiter der ersten Gruppe in wenigen Worten gegeben. Ihr Geschmack findet im Kino eine Fülle von geeigneten Stoffen; denn sie schwelgen da geradezu in Indianer  und Räubergeschichten. Naturaufnahmen und Humoresken gefallen nur wenigen, und das sind bezeichnenderweise gerade diejenigen, die nur gelegentlich einmal im Kino zu finden sind. Vervollständigt wird das Bild des allgemeinen Geschmacksniveaus noch durch eine Reihe von Sensationsdramen, die zu den Lieblingsstücken zählen und die meist eine stark sinnliche Tendenz haben. Daneben erscheinen die gleichaltrigen Schüler anderer Berufe direkt naiv. Indianer  und Räuberdramen spielen bei allen die Hauptrolle; daneben interessieren sie sich aber auch für Burlesken und historische Stoffe, die den abgefeimteren nicht "stark" genug sind. Jene können nur noch durch die Sensation der Kinosensationen gereizt werden. Mehr als in irgendeiner anderen Schicht oder in irgendeinem anderen Alter steht bei ihnen der Kino im Zentralpunkt aller Interessen. Er ist der alles beherrschende Faktor. Diese unterste Gruppe der Arbeiter zeigt denn auch mit 32% wöchentlichen und 29% monatlichen Kinobesuchern die stärkste Besuchsintensität, die überhaupt ermittelt wurde. Bei Milchjungen1 und Friseuren fanden sich sogar 45%. die wöchentlich mindestens einmal den Kino besuchten. Von diesen 26 regelmäßigen Besuchern, die ermittelt wurden, waren 18 die Söhne von Tagelöhnern oder Witwen, 3 Söhne von gelernten Arbeitern,2 Söhne von Handwerkern und 3 Söhne von Krämern. Die Mehrzahl dieser Kinoenthusiasten entstammte also wiederum aus der untersten sozialen Schicht.

Daß auf solchem Boden das Interesse für höhere Kunstgattungen, die eine sensiblere Empfindung voraussetzen, keine Erweiterung erfährt, erscheint selbstverständlich. Zu "Tell" und allenfalls "Wallenstein“, die wohl früher einmal unter Leitung eines Lehrers besucht wurden, sind keine weiteren Stücke gekommen. Höchstens haben sie seitdem eine Operette besucht. Damit ist aber das Gebiet erschöpft, und nur wenige, die dann aber auch ganz und gar aus dem Rahmen


1 Milchjungen und sonstige Austräger.


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der Klasse fallen, haben einen weiteren Interessenkreis. So z.B. der 15jährige Sohn einer anscheinend in besseren Verhältnissen lebenden Witwe, der neben einigen Schauspielen (Prinz von Homburg, Jungfrau von Orleans) auch bestimmte Opern (Freischütz) und andere musikalische Sachen als seine Lieblingsstücke angibt, oder wie ein anderer, der von seinem Beruf aus, er ist Musiker und der Sohn eines Musikers, zu besonders intensiver Beschäftigung mit künstlerischen Dingen gekommen ist. Er nennt Tannhäuser und die Mahlerfeier als diejenigen Erlebnisse, die ihm den stärksten Eindruck gemacht haben. Für die übrigen aber liegen derartige Sachen ganz außerhalb der Interessensphäre. Sie verbinden kaum eine bestimmte Vorstellung mit dem Worte "Theater" und "Konzert", und immer wieder brachten sie die Lichtspieltheater und die hier gewonnenen Eindrücke auf die Frage nach dem Theater oder Konzertbesuch. Im allgemeinen ist der Anschauungskreis derselbe geblieben wie bei den Volksschülern. Nur auf ein einziges neues Gebiet hat sich ihr Interesse erstreckt, nämlich auf Varietévorstellungen.1

Daß bei dem Fehlen aller höheren Interessen der Kino einen bestimmten Einfluß auf die ganze Denk  und Lebensweise dieser ungefestigten Menschen gewonnen hat, steht außer Zweifel. Aus dem Leben der Verbrecher, aus der Moral der Apachenkeller und aus der persönlichen Unerschrockenheit der Helden in den Indianerdramen schneiden sie sich eine Lebensauffassung zurecht, und die drängt sie in ähnliche Bahnen wie ihre gefeierten Vorbilder. Gerade in diesem Alter ist der Geist der Knaben besonders empfänglich für derartige Einflüsse. Das sind die Jahre, in denen Räuberhorden gebildet werden, und in denen mancher von zu Hause fortläuft, um in der Welt und Freiheit draußen ein abenteuerliches Leben zu führen. Ihre ganze Phantasie geht in der einmal angeregten Richtung weiter, und unter solchen Voraussetzungen sind Straftaten, die infolge von Zwangsvorstellungen von jugendlichen Personen begangen werden, verständlich. Für derartig schwache, sittlich und moralisch ungefestigte Menschen aber haben gerade die niedrigsten Stoffe die größere Anziehungskraft.

Bei vielen anderen dagegen ist diese Kinosucht nur eine Kinderkrankheit, die sich mit den Jahren von selbst verliert. So scheint es


1Besonders stark im Vordergrunde steht es bei den ungelernten Fabrikarbeitern, den Milchjungen und sonstigen Austrägern. Bei 24 von den 44 Schülern der beiden Klassen werden Varieténummern überhaupt am meisten geschätzt, oder sie rangieren doch mit an erster Stelle.


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z. B. der Fall bei der Mehrzahl der gelernten Metallarbeiter, der typisch proletarischen Gruppe.1 Auch aus ihren Antworten riecht es wie von Blut und Leichen. Außerordentlich rückhaltlos und selbstbewußt geben sie ihrer Meinung Ausdruck. Aber im allgemeinen gehen ihre Interessen doch etwas über den Rahmen der bisher betrachteten Schicht hinaus, und besonders läßt sich bei den verschiedenen Jahrgängen2 eine gewisse Entwicklung des Geschmacks einwandfrei feststellen. Auffallend ist ein unersättlicher Stoffhunger, der sich auf alle möglichen Gebiete erstreckt und besonders mit fortschreitendem Alter immer stärker wird. Bei den 14 jährigen bilden, abgesehen vom Kino, die Kraftleistungen der Varietékünstler noch die Hauptattraktion, während außer dem obligaten Telldrama kein Theaterstück genannt wird. Bei den etwas älteren hat aber auch dieses Anschauungsgebiet eine Bereicherung erfahren. Zum ersten Male tritt hier auch musikalisches Interesse auf und wird mit den Jahren immer lebhafter. Auch präzisieren sich die Angaben darüber nach und nach mehr, und bei einigen ÄIteren verbindet sich mit Musik scheinbar nicht bloß mehr der Begriff einer angenehmen Empfindung. Von den 14jährigen nennt nur einer einmal "flotte Musik". Unter den 15 jährigen werden schon von sieben Musikstücke angegeben, die meisten schreiben jedoch einfach Militärkonzerte oder höchstens "Opern  oder Operettenmusik", einzelne wenige nennen bestimmte Komponisten: Beethoven, Mozart u.a. Bei den älteren Lehrlingen kommt dann aber ausgesprochene Vorliebe für Opern zum Ausdruck.

Von der Mehrzahl wird jedoch wahllos alles aufgenommen, ohne daß von irgend einer anderen Sichtung des Materials oder von einer einheitlichen Tendenz bei der Auslese der Stoffe die Rede sein könnte, als nur auf Grund eines außerordentlich lebhaften erotisch sinnlichen Interesses. In sehr ausgesprochenem Maße zeigt sich hier schon bei den 15jährigen und 16jährigen, daß das Liebes- und Geschlechtsleben eine große Rolle spielt. Es gibt die Richtung an für die ganze Art des Lebens und für die Mittel, die als Unterhaltung geschätzt werden. Von dieser Grundlage aus lassen sich alle Äußerungen, sowie die Gesamtheit der Interessen, auch die neu erwachte Vorliebe für Musik, verstehen und einordnen. Daher ist der Kinobesuch natürlich sehr verbreitet. Sie gehen hin in Begleitung "des


1So ist es wenigstens heute, wenn man die jugendlichen und erwachsenen Arbeiter vergleicht. Doch sind die letzteren nicht unter dem Einfluß dieser modernen Schöpfung aufgewachsen und ob später das Bild dasselbe bleibt, ist fraglich.

2Es handelt sich um jugendliche Arbeiter im Alter von 14 bis 18 Jahren.



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Schatzes" oder der "Liebsten" (in 11 von 21 Fällen bei 15  und 16 jährigen Schülern). Die sinnlich aufregenden Stücke entsprechen vorzüglich der gesamten psychischen Einstellung. "Liebes  und Sittendramen", unendlich oft kommt diese Antwort, besonders von denjenigen, die sehr häufig, und meist mit ihren Freundinnen, in den Kino gehen. Das Theater, das "ruhig und dunkel" ist und "wo die meisten Dramen gegeben werden", ist dann meistens das bevorzugteste, z. B. in der Mittelklasse der Gewerbeschule mit einundzwanzig 15 jährigen Schülern kommt diese Kombination: regelmäßiger Kinobesuch mit dem Schatz und ausgesprochenes Interesse für Liebesgeschichten, im Geschmack der "Liebe einer Stunde",“Verblutet",“Flammen im Schatten", 11mal vor. Häufig trifft diese stark sinnliche Einstellung mit musikalischen Interessen zusammen. Die Liebe spielt etwa dieselbe bedeutende Rolle wie bei der ersten Gruppe Räuber  und Indianergeschichten. Jeder Film im einzelnen gesehen ist nicht zweideutiger als manche Operette und manches Lustspiel. Stellt man sich aber die Gesamtheit des Interessenkreises dieser 15jährigen vor, in dem vor lauter Liebesdramen, Varietéattraktionen und ähnlichem das Gefühl gegen feiner nuancierte Eindrücke absolut abgestumpft ist, kann man die sittliche Gefährdung der Großstadtjugend durch den Kino nicht verkennen. Mehr sachliche Stoffe, deren Aufnahme weniger auf rein gefühlsmäßiges als auf verstandesmäßiges Erfassen gestellt ist, wie wissenschaftliche Vorträge oder historische Dramen, gefallen ihnen nicht, und nur die gefühlsmäßige Art der Auffassung scheint überhaupt dieser bestimmten Schicht besonders zu entsprechen. Alles, was sie auf diesem Wege erfahren können, nehmen sie absolut vorurteilslos an. Daneben wächst mehr und mehr das Interesse für sportliche Betätigung. Auf diesen Grundstimmungen, einer ausgeprägten Sinnlichkeit und der auf dieser Basis erwachsenen Vorliebe für Kino und leichte Musik und andererseits auf der auf die Ausbildung körperlicher Gewandtheit gerichteten sportlichen Betätigung und dem davon ausgehenden Interesse für Varieté, beruht ihr ganzer Lebensinhalt. Ganz rein kommen die verschiedenen Erlebnisarten in der Antwort eines 15jährigen Maschinenschlossers, dem Sohn eines Kesselschmieds aus Mannheim, zum Ausdruck: Besuchen Sie Theater, Vorträge, Konzerte, Varietés? "Ich besuche fast alles. Montags geht's ins Kino, Dienstag bleibt's zu Haus, Mittwoch geht's ins Theater, Freitags hab ich Turnen um ½ 10 Uhr nachmittags, Sonntags gehe ich mit meinem Nachbarmädchen in den Wald spazieren." Was hat Ihnen dabei am besten gefallen ? "Mozarts


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Musikstücke, Richard Wagners Dramen und Schillers Dramen bewundre ich am liebsten im Hof  und Nationaltheater am Sonntag.“ Besuchen Sie Kinematographentheater? Wie oft? Allein oder mit anderen ? "Kino: hie und da, aber nicht allein.~“ Wann gehen Sie meistens in den Kino (Wochentag—Tageszeit) ? "Wochentags von 1/2 9 bis 11 Uhr." Was veranlaßt Sie jeweils, in den Kino zu gehen ? "Liebesdramen, Trapper  und Indianergeschichten, aktuelle Neuheiten aus aller Welt und Bilder der Aviatik und Luftschiffahrt." Was hat Ihnen am besten gefallen ? "Das Leben im Paradies, Fremde Schuld, Die keusche Susanna und Moderne Eva, Vierakter." Welches Theater bevorzugen Sie ? Aus welchem Grund ? "Saalbau, dunkel, schönes Programm.“1

Ein anderer, der sehr vielseitige Interessen zeigt, häufig Theater und Konzerte besucht, faßt doch schließlich seine Empfindungen also zusammen: "Die Kinematographentheater sind das Schönste, was man in Mannheim hat."

Eine derartige Macht kann der Kino nie da erlangen, wo eine streng bürgerliche Erziehung die der Schule Entwachsenen Ieitet. Das ist der Fall bei der dritten Gruppe jugendlicher Arbeiter, die dadurch einen mehr kleinbürgerlichen Typ repräsentieren. Sie stammen meist aus kleinen Beamten  und Handwerkerfamilien, und in der Auswahl der Stoffe, denen sie ihr Interesse zuwenden, spiegeln sich die verschiedenartigsten Einflüsse wieder, denen sie unterworfen sind und die ihren Geschmack gebildet haben. Die patriotische Erziehung in der Schule fällt auf fruchtbaren Boden, weil der Geist des Elternhauses meist auch in diesem Sinne wirkt. Daher erklärt sich die Vorliebe für Kriegs- und historische Dramen. Man merkt ordentlich, wie der Vater bestimmt, was der Junge besuchen darf. Da diese Väter meist daran gewöhnt sind, sehr genau zu rechnen, wird das Aufsuchen von Theatern und Konzerten, besonders aber von Kinematographentheatern im allgemeinen als überflüssiger Luxus betrachtet, und infolgedessen ist der Anschauungskreis der jungen Leute sehr begrenzt. Sie scheinen nicht so "wach" als die Angehörigen der vorigen Gruppe, allerdings auch nicht so verdorben. Nur wenige haben überhaupt je einer Theateraufführung beigewohnt, noch je ein Konzert gehört. Ein großer Prozentsatz, nämlich 27% gegen 3% bei den Metallarbeitern, hat überhaupt nichts gesehen.

Dagegen ist der Sinn mehr auf das Praktische gerichtet, und da,


1Siehe Seite 2.Die Frage nach dem bevorzugten Theater war bloß auf einem Teil der Fragebogen gestellt.


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besonders bei den Feinmechanikern z. B., der Beruf mehr Anforderungen an die persönlichen Leistungen des einzelnen stellt, rückt er mehr in den Mittelpunkt des Lebens. Diese stärkere Einstellung auf den Beruf äußert sich durch vermehrten Besuch wissenschaftlicher und besonders fachwissenschaftlicher Vorträge. Für die weniger hochqualifizierten Arbeiter, für die die Arbeit immer mehr nur als die notwendige Existenzgrundlage angesehen wird, bleiben alle diese Kräfte ungebunden und suchen sich deshalb auf allen möglichen Gebieten auszuleben.

Natürlich findet der Kino auch in dieser kleinbürgerlichen Gruppe seine Freunde, und Wildwest und Indianergeschichten tauchen neben historischen und modernen Dramen hin und wieder auf. Aber das alles ist ihnen weniger wichtig und mehr zufällig bei Gelegenheit angesehen worden.

Zur Heranbildung einer so typisch kleinbürgerlichen Lebensanschauung ist natürlich der Boden einer kleinen Stadt noch weitaus günstiger. Die Großstadt läßt die positiven Seiten dieser Welteinstellung leicht verkümmern, und nur durch hauptsächlich negative Momente tritt ein Unterschied gegen die Industriearbeiter hervor. Das ergibt sich aus einem Vergleich mit den Angehörigen derselben Berufe in Heidelberg.1 Ihnen fehlt die Lauheit, das nur zögernd sich äußernde Interesse der kleinbürgerlichen Schicht in Mannheim; andererseits stehen sie inmitten der Vielheit der Eindrücke doch nicht so völlig kritiklos wie die Proletarierknaben. In den Sachen, die ihnen gefallen, zeigt sich schon eine einigermaßen einheitliche Geschmacksrichtung. Und die größere Differenziertheit, den weiteren Horizont haben nicht etwa die Großstädter, wie man aus den reichlicher gebotenen Möglichkeiten, Theateraufführungen zu sehen, Konzerte zu hören oder ein besseres Kinematographentheater zu besuchen, schließen könnte. Es ist nicht leicht, hierfür bestimmte Ursachen anzugeben. Wie oben schon gesagt, ist das Milieu, aus dem sie stammen, dasselbe. Vielleicht aber leben die Kinder in der kleineren Stadt nicht so sehr auf der Straße und sind weniger den unkontrollierbaren und meist schlechten Einflüssen daselbst ausgesetzt. Vielleicht sind in Mannheim die Mütter mehr beruflich in Anspruch genommen und können sich deshalb der Erziehung ihrer Kinder weniger widmen. Jedenfalls


1Diese hier gegenübergestellten Berufe repräsentieren eine Oberschicht der kleinen Handwerksberufe, Bauhandwerker, Kunstschlosser, Feinmechaniker usw. Schuster, Schneider usw., die dazu meist noch vom Lande stammten, hatten viel weniger gesehen, aber an das wenige eine lebhafte Erinnerung.


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repräsentiert die Heidelberger Jugend einen gehobeneren Typus, bei dem eine starke Freude an der Natur und eine gewisse patriotische Färbung die charakteristischsten Noten sind. Wesentlich fällt für die obige Behauptung das intensivere Interesse für Theater und Konzerte in die Waagschale. Sie sind fast ohne Ausnahme nicht bei der Tellaufführung stehengeblieben. Wallenstein, Maria Stuart, Glaube und Heimat sind von vielen besucht worden, und darüber hinaus erweitert sich das Gesamtrepertoire dieser Schicht noch wesentlich. Musikalisches Interesse ist allgemein, geht aber über Märsche und Militärkonzerte selten hinaus, und dem Hohenfriedberger Marsch begegnet man sehr häufig. Dagegen fehlen die Einzeltypen, die aus der Flachheit des Mannheimer Niveaus hin und wieder auftauchen, und die vielleicht auch nur auf dem Boden einer Großstadt möglich sind. Nie finden sich unter den 15jährigen in Heidelberg solche, die Beethovensche und Bachsche Musik als Lieblingsstücke angeben, und die auch mit ihren übrigen Interessen einer viel höheren Stufe entsprechen als der Durchschnitt. Die Stellung der Heidelberger Jungen den verschiedenen Schaumöglichkeiten gegenüber ist im allgemeinen mehr von einer starken Wißbegier bestimmt und weniger von dem Trieb, bloß zu schauen und zu erleben. Daher erklärt sich die verhältnismäßig hohe Zahl der Vortragsbesucher1, besonders solcher Vorträge, die Berufsfragen behandeln. Überhaupt zeigt sich bei ihnen noch in verstärktem Maße starkes berufliches Interesse. So betrachten sie z. B. Aufnahmen im Kino je nach ihrer Beschäftigung mit den Augen des Elektrotechnikers, des Bauhandwerkers oder des Gärtners. Mit einer Art Wißbegier treten sie nicht nur an Naturaufnahmen, sondern auch an Dramen, besonders soweit diese historische Begebenheiten veranschaulichen, heran. Die Vorliebe für Naturaufnahmen trifft man am häufigsten, häufiger sogar als die für Dramen, was bisher noch nie beobachtet wurde.2 Allerdings sind es durchschnittlich nicht die regelmäßigen Besucher, die so urteilen. Sie bevorzugen immer Dramen.

Selbst den eifrigen Naturliebhaber würde ein zu wiederholtes An-


1Während von 138 Mannheimer Metallarbeitern und Feinmechanikern nur 16 Interesse für Vorträge, meist allgemeinwissenschaftlichen Inhalts bekundeten, wurden von den 63 Angehörigen derselben Berufsklassen in Heidelberg 14 mal ganz bestimmte, meist technische Vorträge genannt.

2Von den 278 Schülern in Heidelberg wurden 45 mal ganz bestimmte Naturaufnahmen genannt, von den 131 Schülern in Mannheim nur 4mal, ein Zeichen also für das viel lebhaftere Interesse der ersteren.


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schauen ermüden, da die Eindrücke zu vielseitig sind, wenn sie nicht durch eine zugrunde gelegte Erzählung zusammengefaßt werden.

Lebhaltes Interesse wird auch den Tagesfragen entgegengebracht. Zeppelinfahrten, Bilder von Kriegsschiffen, das Eisenbahnunglück in Mülhausen, eine Nordpolreise und ähnliches werden oft genannt. Fremde Städte und Länder wecken die Sehnsucht, sie zu sehen.

In dieser verschiedenartigen Einwirkung des Kino auf den Geschmack gleichaltriger Berufsklassen in zwei verschiedenen Städten treten ganz klar seine verschiedenen Wirkungsmöglichkeiten hervor. Für die einen ist er ein Mittel, das Wissen zu bereichern, um so die Grundlage für eine bessere Bildung zu schaffen. Für die Mannheimer Jugend ist er der Ort, an dem man sich an Sensationen und Schauerdramen aufregt, je mehr, um so besser. Deshalb werden von ihnen besonders die Vorstadtkinos besucht, "weil man da feine Leckerbissen zu sehen bekommt".

Jene haben den Kino in den Mittelpunkt ihres Lebens gestellt, so daß kaum mehr andere Neigungen daneben Platz haben. Für die Heidelberger ist er ein Mittel neben vielen anderen, die zur Unterhaltung und zur Befriedigung des Wissens dienen.

[Randbemerkung: Arbeiter] In den späteren Lebensjahren verwischt sich innerhalb der Arbeiterklasse dieser im jugendlichen Alter sich so deutlich ausprägende Gegensatz von kleinbürgerlichen und proletarischen Elementen, oder wenigstens treten die Repräsentanten der ersten Art nur noch selten in die Erscheinung und finden sich eigentlich nur mehr im Handwerkerstand. Der Sohn des Handwerkers, der Industriearbeiter geworden ist, wird mit den Jahren zum Vertreter seines eigenen Berufes, und die Federn vom Nest haften ihm nicht mehr an. Dagegen differenziert sich innerhalb der Arbeiter ein neuer Typus heraus: der des organisierten Gewerkschaftlers. Sämtliche hier in Frage kommenden Arbeiter sind Mitglieder von Gewerkschaften, und dieser Umstand wirkt bis zu einem bestimmten Grade bei allen über den Rahmen der beruflichen Interessen auch auf das private Leben ein. Bei dem oben erwähnten Typus jedoch steht die gewerkschaftliche Idee so absolut im Zentralpunkt des Lebens, daß alle anderen Äußerungen davon bestimmt werden und sich ihr anpassen. .

Welchen Einfluß hat nun dieses Moment, sowie die anderen Umstände, die den erwachsenen Arbeiter von dem Jugendlichen unterscheiden, im allgemeinen auf seine Stellung gegenüber den Kulturerscheinungen, speziell zu dem Kinematographentheater? 


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Mit steigender wirtschaftlicher Unabhängigkeit ist das eine Hemmnis, das der Betätigung des Interesses für Theater, Konzert und Kino im Wege stand, beseitigt worden. Mit größerer finanzieller Selbständigkeit haben fast alle, wenigstens einmal, Gelegenheit genommen, sich eine Vorstellung im Theater anzusehen oder ein Konzert zu hören. Bei den meisten ist es aber nicht bei einem einmaligen Besuch geblieben. Ein großer Prozentsatz jedoch erinnert sich nicht mehr an das Gesehene, oder es sind nur verschwommene und unklare Vorstellungen haftengeblieben, die sich sogar meist auf unwesentliche Nebensachen der Handlung beziehen. Im allgemeinen scheint aber mit den Jahren der Drang, aus der Enge der eigenen Sphäre herauszukommen, zu erstarken. Von einer Abstumpfung durch den Beruf ist, wenigstens in den mittleren Jahren von 30 - 40, nichts zu verspüren. In Gegenteil ist der Geschmack bei diesen älteren Arbeitern differenzierter und verfeinerter als bei den jüngeren. Das "Teilhabenwollen" an den geistigen Gütern veranlaßt zum Besuch von Theatern, Konzerten und Museen. Nur selten dagegen werden diejenigen Bildungselemente ausgewählt, die über irgendein bestimmtes Teilgebiet der Wissenschaften, z. B. der Technik, Aufschluß geben1; hingegen kommt in der Vorliebe für Vorträge über Sternkunde, über religiöse Fragen und über bildende Kunst, die am meisten besucht wurden, eine ganz andere Tendenz zum Ausdruck. Der Urgrund dieses Bildungsideals ist mehr das religiöse Bedürfnis, das sich auf diese Weise befriedigt, indem es gewissen, halb mystischen Vorstellungen nachgeht. Nur findet dieses Streben nicht seinen Ruhepunkt in einem jenseitigen Leben, sondern in einem vollkommener gestalteten Diesseits.

Auf diesem Wege zu einem neuen Lebensinhalt, auf den alle diese Bestrebungen hinauslaufen, spielt das verstandesmäßige Erfassen nur eine untergeordnete Rolle. Mit rein vernunftgemäßen Erwägungen ließe er sich auch kaum finden. Überhaupt scheint das gefühlsmäßige Aufnehmen und Einfühlen für den modernen Arbeiter die adäquate Form, den Anschauungskreis zu erweitern. Dieser Art der Begabung entspricht auch die starke Vorliebe für Musik, für Opern und Konzerte, die z. B. bei den Handwerkern nur sehr wenig ausgeprägt ist. Allerdings stuft sich der Geschmack sehr ab, und neben den wenigen, die Bach  und Akademiekonzerte am meisten lieben, sind eine Reihe an-


1Während z. B. bei den niederen Beamten, soweit das aus dem vorliegenden, spärlichen Material ersichtlich ist, viel praktischere Interessen beim Vortragsbesuch zu erkennen sind. 


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derer, die mehr die Musik der Tegernseer Bauernkapellen und leichte Operettenmelodien vorziehen. Wagnersche Opern einerseits und moderne Operetten andererseits werden am allerhäufigsten genannt. Dann folgt der Freischütz.1 Durch die intensivere Beschäftigung mit künstlerischen Dingen oder in Anlehnung an einzelne einflußreiche Gewerkschaftsvorsitzende hat sich eine gewisse Urteilsfähigkeit entwickelt, die z. B. an den kinematographischen Darbietungen strenge Kritik übt und Schund und Sensationsstoffe ablehnt.

Akrobaten und Ringkämpfern vermögen auch nur noch wenige Geschmack abzugewinnen, und überhaupt scheinen Varietés ebenso wie der Kino in der Hauptsache den jungen Burschen zu gefallen.

Selbst für regelmäßige Kinobesucher unter den Arbeitern, die "aus Freude am Wunderbaren oder am Neuen" hingehen, verliert der Kino mit fortschreitendem Alter mehr und mehr von seiner beherrschenden Macht. Der Besuch, der für die 14 jährigen als der höchste der Genüsse gilt und deshalb für den Sonntag aufgespart wird, wird jetzt meist gelegentlich abends nach Feierabend verlegt, sehr oft aus Langeweile, weil keine andere Anregung vorhanden ist, um sich während der Freizeit zu beschäftigen.2

Nicht nur die Häufigkeit des Besuchs bei den einzelnen, auch die Zahl der Besucher wird in den höheren Altersstufen geringer. Die Ursache dafür ist aber nur zum Teil in einer Wandlung des Geschmacks

zu suchen, viel mehr in äußeren Ursachen. Nicht zuletzt werden finanzielle Fragen ausschlaggebend sein. In jungen Jahren, wo der Arbeiter nur für seinen Unterhalt zu sorgen hat, braucht er nicht so genau mit jedem Pfennig zu rechnen' Später aber, wenn von dem meist nur wenig gesteigerten Lohn eine ganze Familie ernährt werden soll, bleibt neben den notwendigsten Auslagen kein Geld mehr übrig für Luxusbedürfnisse. Weiter dürfte der Grund, der überhaupt die jungen Leute bestimmt, den Kino aufzusuchen, für den Arbeiter noch besonders gelten. Mehr als die Hälfte gehen "in Gesellschaft" in die Lichtspieltheater, und zwar antworten die jüngeren meistens "mit Mädchen" oder "mit Bekanntschaft".

Für alle verliebten Paare sind die dunklen Kinematographentheater ein beliebter Aufenthalt. '. 


1Diese Sachen werden in Mannheim auch besonders oft gespielt. Siehe Professor Schott, Die Opernaufführungen in Mannheim. ~ 2Dieselbe Erscheinung wie bei den Erwachsenen aller anderen Berufsschichten zeigt sich auch hier. Der Kino ist nicht mehr Selbstzweck, sondern für die intelligenteren wird er das Mittel für alle möglichen anderen Zwecke. 


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"Kommen Sie nur herein, unser Kino ist der dunkelste in der ganzen Stadt", pries ein Unternehmer sein Lokal an, und daraus allein geht schon hervor, wie sehr dieser Umstand geschätzt wird. Gerade für die Angehörigen dieser Schichten sind die Lichtspieltheater überhaupt die gegebene Form der Abendunterhaltung. "Er" will "ihr" doch "etwas bieten", und die Dramen entsprechen meist ganz und gar "ihrem" Geschmack. Dann ist es ihm auch mit relativ geringen Mitteln schon möglich, etwas Übriges zu tun, eine Loge oder 1. Platz zu mieten, um sich so in ein günstiges Licht gegenüber der Auserwählten zu setzen.

Wenn verheiratete Leute noch regelmäßig den Kino besuchen, so gibt da die Frau meist die Veranlassung. Sie will ein bißchen Sensation, ergreifende Schicksale und himmlischen Edelmut erleben, um aus den engen Grenzen ihrer Häuslichkeit einmal hinauszukommen. Der Mann ist meist schon zu abgestumpft und oft auch zu überlegen, um noch Gefallen daran zu finden. Er hat auch mehr Ersatzwerte, die ihn ausfüllen, nämlich seine Interessen für die Politik und Gewerkschaft, die ihn mehr und mehr in Anspruch nehmen. Deshalb läßt in höherem Alter der Kinobesuch nach, oder er hat für die 40  und 50 jährigen von heute nie eine Rolle gespielt, weil es das "zu ihrer Zeit" noch gar nicht gab.

Im ganzen genommen scheint aber trotz der geringen Interessiertheit der älteren Arbeiter im Vergleich zu den jugendlichen der Kinobesuch doch eine gebräuchliche Form der Abendunterhaltung zu sein.

20% aller Befragten besuchten keine kinematographischen Vorstellungen. Ein ähnlicher Prozentsatz findet sich auch in fast allen andern Schichten und Altersstufen. Nur lassen sich bei diesen Erwachsenen eine Reihe von Ursachen klar erkennen, die sie zu dieser Haltung bestimmen. Von diesen 20% gehören die meisten jener untersten Schicht an, für die es außer Arbeit und Essen scheinbar überhaupt nichts in der Welt gibt; sei es, daß die Ungunst ihrer wirtschaftlichen Lage sie auf diesen Punkt gebracht hat, sei es, daß sie ihrer Veranlagung nach überhaupt allem indifferent gegenüberstehen. Sie haben auch zum Kino nicht eine negative, sondern überhaupt keine Stellung. Geringer ist die Zahl derjenigen, die aus bestimmten Gründen die Lichtspieltheater in ihrer heutigen Gestalt ablehnen. In dieser Richtung bestimmen z. B. religiöse Motive oder vielmehr die Warnungen der Geistlichen. Viele sind scheinbar überhaupt erst zur Kritik gekommen, seit die Kinematographentheater zum Gegenstand lebhafter Kontroversen in den Tageszeitungen geworden sind. Oft 


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findet sich nämlich auf die Frage nach der Häufigkeit des Besuchs die Antwort: "Früher ja—jetzt nicht mehr."

Eine nur ganz untergeordnete Rolle spielt der Kino, wenn besonders intensive wissenschaftliche oder Parteiinteressen auftreten. Bei solchen Menschen ist das Leben viel zu rationell eingeteilt und ihr Sinnen und Trachten zu stark auf einen bestimmten Punkt konzentriert, um "für derartigen Schund" Zeit und Geld aufzuwenden.1

Sie sind auch die einzigen, die am Kino als solchem Kritik üben, sei es vom parteipolitischen Standpunkte, sei es von allgemein  ästhetischen Gesichtspunkten aus oder mit Rücksicht auf die der Jugend drohenden Gefahren. Ein Arbeiter schreibt: "Meistens ekeln mich die Vorstellungen an, weil sie so wenig den Tatsachen entsprechen, und weil sie meistens eine Tendenz enthalten, die nicht nach meinem Geschmack ist, nämlich, daß das Gute im Sinne der herrschenden Klasse immer durchdringt." Die wissenschaftlich Interessierten suchen sich das heraus, was ihre Kenntnisse erweitern kann; aber dabei kommen sie in einer gewöhnlichen Vorstellung schlecht auf ihre Rechnung und "schlagen die Zeit lieber nicht auf diese Weise tot". Immerhin erfreuen sich Naturaufnahmen als ein Mittel, das Wissen zu bereichern, einer gewissen Beliebtheit. Wieviel Anregung in einzelnen Fällen aus ihnen, sowie aus Dramen geschöpft werden kann, das zeigt die Antwort einer Arbeiterfrau, die schreibt: "Man wird zu Vergleichen angeregt, z. B. bei Vorführung klassischer Stücke (Griechen, Römer, Irrfahrten des Odysseus) über damaligen und jetzigen Baustil, über Kleidertrachten u. dgl." Doch abgesehen von solchen gelegentlichen Eindrücken, tritt bei dieser Oberschicht der Arbeiter der Kino hinter den übrigen Erlebnismöglichkeiten sehr zurück. Man würde jedoch zu weit gehen, wollte man aus dem Vorhandensein von künstlerischen oder wissenschaftlichen Interessen eine ablehnende Stellung dem Kino gegenüber ohne weiteres folgern. Im allgemeinen schalten sie sich nicht aus, vielmehr stehen die Stärken des Interesses für beide im umgekehrten Verhältnis zueinander. Letzten Endes ist beides für den Arbeiter eine Geldfrage. Entweder er kann sich keines von beiden, weder Theater- noch Kinobesuch leisten, oder aber er besucht beides hin und wieder. Der Durchschnittsarbeiter ist denn auch meist nicht entschiedener Anhänger der einen oder der anderen Art der Unterhaltung. 


1Von 11 Arbeitern, bei denen politische oder wissenschaftliche Neigungen besonders stark zum Ausdruck kommen, besuchten nur 3 den Kino einmal monatlich, die übrigen seltener; die meisten waren nur vereinzelte Male in einer Vorstellung, um auch das einmal kennen zu lernen. 


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Zum Standard of life des modernen Industriearbeiters gehört sowohl ein gelegentlicher Theaterbesuch, als auch hin und wieder, vielleicht monatlich oder wöchentlich, ein Abend im Kino.

Mit den oben schon erwähnten Naturaufnahmen rivalisieren die Dramen an Beliebtheit. Besonders sind es Asta Nielsen Dramen und "In der Nacht des Urwalds", sowie einzelne historische Stücke. Indianer  und Detektivgeschichten, die in so weitem Maße die Phantasie der Jugend beschäftigen, entsprechen einer primitiveren Stufe und erregen bei dem erwachsenen Arbeiter kaum mehr Interesse. 1

[Randbemerkung: Landbewohner] Eine untergeordnete Rolle spielt der Kino natürlich bei den Arbeitern, die auf dem Lande ansässig sind, da sie außer ihrer Arbeitsstätte die Stadt nur wenig kennen und meist gleich nach Fabrikschluß wieder nach Hause fahren. Aus diesen äußeren Schwierigkeiten ist die schwache Besuchsintensität allein zu erklären, und es ist verfehlt, daraus etwa auf den Einfluß des Landlebens, auf die Geschmacksbildung seiner Bewohner zu schließen. Hat der vom Lande stammende Arbeiter erst seinen Wohnsitz in der Stadt aufgeschlagen, so lassen sich hinsichtlich der Häufigkeit des Kinobesuchs von vornherein keine Unterschiede gegen die dauernd in der Stadt Ansässigen mehr finden.

Von 34 auf dem Lande geborenen und in der Stadt ansässigen Arbeitern besuchten den Kino:

8 wöchentlich 1 oder mehrmals = (1/4)

7 monatlich 1 oder mehrmals = (1/5)

10 selten = (1/3)

7 gar nicht = (1/6)
 

Von 21 in der Stadt Geborenen oder lange Ansässigen besuchten den Kino:

6 wöchentlich 1 oder mehrmals = (1/4)

6 monatlich 1 oder mehrmals = (1/4)

7 selten = (1/3)

2 gar nicht = (1/10)


1In dieser Hinsicht unterscheiden sich die kleinen Beamten, soweit das aus dem spärlichen Material zu ersehen ist, ziemlich wesentlich. Naturaufnahmen können ihnen nicht viel sagen; dagegen vertiefen sie sich sehr in die historischen Stoffe. Im übrigen aber stimmen sie mit den Arbeitern überein, soweit ihre Stellung zu Theater und Konzert in Frage kommt. Von den 28 Arbeitern einer christlichen Gewerkschaft, die fast alle in den umliegenden Dörfern der Stadt wohnten, waren überhaupt nur 10 im Kino gewesen (gegen 81 % im Durchschnitt), und das waren meist die jüngeren, die am Samstag nach Feierabend die Woche mit einem Besuch im Kino beschließen. 


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Aus diesen Zahlen geht deutlich hervor, daß Iediglich die Gelegenheit genügt und irgendein längerer Einfluß der Großstadtatmosphäre gar nicht notwendig ist, um den Geschmack an kinematographischen Darbietungen zu wecken. Im Gegenteil findet sich ausschließlich Interessenkonzentration auf die Filmdarstellungen lediglich bei solchen, die vom Lande stammen, bei denen Theater, Konzerte oder sonstige Veranstaltungen noch außerhalb des Interessenkreises liegen und die den Kino als "am schönsten" bezeichnen. Charakteristisch für dieses Niveau ist ein Metallarbeiter, der folgende Angaben machte:

auf Frage 11: Vater: Gemüsehändler.
auf Frage 2: "Der Kino gefällt mir am besten."
auf Frage 3: Weiß nichts zu antworten oder nennt nur Kinostücke, da die allein ihm Eindruck gemacht haben.
auf Frage 4: "3 mal wöchentlich."
auf Frage 5: "Allein und in Gesellschaft."
auf Frage 6: "Das Programm."
auf Frage 8: "Ja."
auf Frage 9: "Komische Sachen, Liebesdramen, Fritzchen, Max Linder." Er bevorzugt 3 Theater in der Neckarvorstadt, die besonders billig sind.

Um ein tieferes Verständnis für Theater und Konzerte zu wecken, scheint für diese Schichten die Einwirkung städtischen Milieus unerläßlich. Das ist sehr einleuchtend, wenn man bedenkt, daß die Angehörigen dieses Standes im Durchschnitt ohne weitere Vorkenntnisse an alle Erscheinungsformen der Kunst herantreten und nur durch dauerndes Einfühlen ein gewisses Verständnis dafür erlangen können. Nur eine ganz kleine Elitegruppe bringt es trotz des Mangels an Vorbildung, trotz der fehlenden Anregung soweit. Und der Prozentsatz derer, bei denen sich die natürliche künstlerische Aufnahmefähigkeit findet und die trotz der vielen Hemmungen ihren Anschauungskreis erweitert haben, ist sehr gering, und sie ragen weit über ihre Berufskollegen hinaus.2 Einen solchen Typus des künstlerisch interessierten Arbeiters repräsentiert etwa ein Buchdrucker.

Er antwortete auf

Frage 1: Volksschule.
Frage 2: Theater 2 mal monatlich und noch öfters, wenn ich mehr


1Siehe Fragen S.2.

213 von etwa 111 Arbeitern kann man als solche ansprechen. Davon waren 9 in der Stadt geboren und 4 auf dem Lande. Sie lebten aber jetzt auch schon längere Zeit in der Stadt. (Im ganzen ist der Prozentsatz der auf dem Lande Geborenen aber viel größer.) 


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Geld hätte. Früher ging ich noch häufiger. Ich habe lieber nichts gegessen fürs Theater.
Frage 3: Große Opern, dann Troubadour, Undine, Freischütz, Operetten, Fidelio, Flachsmann als Erzieher 9 mal.
Frage 4: Seltener.
Frage 6: Naturaufnahmen, Farmer, Belehrung aller Art.
Frage 7: Freitag, Lohntag.
Frage 8: Ja.
Frage 9: Naturaufnahmen, Farmer in Amerika, Helsingfors.
Frage 10: Norwegen.
Frage 11: Ja, künstlerisch dauernde Eindrücke.

[Randbemerkung: Arbeiterfrauen] Alle die differenzierenden Momente, die unter den Arbeitern verschiedene Typen herausbilden - den begeisterten Theaterbesucher, den Gewerkschaftler- fallen bei den Frauen derselben Schicht fort. Sie geben ein viel einheitlicheres Bild ab als die Männer; denn ihre Interessen richten sich in der Hauptsache nur auf zwei Gebiete: auf Theater und Kinematographen. Besonders der letztere ist als Unterhaltungsmittel von allergrößter Bedeutung. Der Theaterbesuch, der im Durchschnitt vielleicht noch etwas häufiger ist als bei den Männern, vollends aber Konzert ­oder Vortragsbesuch treten weit dahinter zurück. Wissenschaftliche oder Parteiinteressen, die bei den Männern einen großen Teil der freien Zeit ausfüllen, fehlen bei den Frauen sozusagen ganz. Soweit sie sozialdemokratischen Verbänden angehören, sind sie eifrige Parteianhängerinnen. Einzelne sind auch gelegentlich in Versammlungen oder zu Vorträgen gewesen. Im allgemeinen aber ist der Ehrgeiz nach positiven Kenntnissen, die zur Grundlage der politischen Stellung dienen könnten, außerordentlich schwach. Daher ist es erklärlich, daß der Kino, besonders bei denjenigen Frauen, die selbst keinen Beruf haben, eine große Rolle spielt; denn sie haben viele freie Zeit außer ihrer Hausarbeit und relativ wenig naheliegende Möglichkeiten, sie auszufüllen. Mehr aus Langerweile gehen sie deshalb häufiger in den Kino als aus wirklichem Interesse für die Aufführung. Während die Männer in Wahlversammlungen sind, gehen die Frauen in das benachbarte Lichtspieltheater, und nach der Vorstellung holen sie dann ihre Männer wieder ab. Mit der Zeit aber wird dieser Notbehelf zu einem wichtigen Bestandteil ihres Daseins. Nach und nach werden sie von einer wahren Begeisterung dafür ergriffen, und mehr als die Hälfte sucht sich wöchentlich ein  oder mehrmals diesen Genuß zu verschaffen. Sie leben während 


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der Zeit in einer anderen Welt, in einer Welt von Luxus und Verschwendung, die den einförmigen Alltag vergessen machen.

Alle anderen Neigungen erscheinen daneben bedeutungslos, und verhältnismäßig groß ist die Zahl derjenigen, die gelegentlich einmal im Theater und außerdem nur im Kino waren.1

Höchstens prägt sich auch hier wiederum musikalisches Interesse aus, worauf man aus den vielfach angeführten Opern schließen könnte.— Unter den Komponisten treten Bizet und Mozart neben Wagner stärker hervor, die von den Männern kein einziges Mal angegeben werden. Jedoch kann es nicht die reine Musik in erster Linie sein, die den häufigen Opernbesuch veranlaßt; denn sonst müßten auch Konzerte sich größerer Gunst erfreuen. Vielmehr scheint die gleichzeitige Wirkung auf Auge und Ohr, die musikalische Interpretation von Handlungen, die der Oper ebenso wie dem Kinodrama gemeinsam sind, dem Geschmack der Frau so ganz besonders zu entsprechen. Dasselbe Zusammentreffen der Vorliebe für Oper und Kinomusik wiederholt sich auch besonders oft bei den Handlungsgehilfinnen.

[Randbemerkung: Handwerker] Bei Arbeitern sowohl als auch bei Handwerkern könnte man einen bestimmten Zentralpunkt annehmen, um den herum sich alle anderen Lebensinhalte gruppieren und von dem aus man sie alle verstehen könnte. War für die Arbeiter diese Dominante die Politik, die gewerkschaftlichen Interessen, so steht an dieser Stelle im Handwerkerstand der Beruf. Bei den Arbeitern sind nur die Stunden davon ausgefüllt, während deren sie in der Fabrik sind. Der selbständige Handwerker, dessen Existenz weitgehende Dispositionen erfordert, nimmt die beruflichen Sorgen mit in seine freie Zeit hinein. Beider Streben geht darauf hinaus, eine möglichst hohe Lebenshaltung zu erreichen.

Was dem Arbeiter als einzelnem nur bis zu einem gewissen Grade möglich ist, das sucht er durch Einstellung in einen großen, mächtigen Verband zu gewinnen. Diese Organisation geht über ihre ursprüng- 


1Dieses Resultat scheint den Beobachtungen beim Besuch der Lichtspieltheater, in denen meist das männliche Publikum überwiegt, zu widersprechen. Es ist aber höchstens ein weiterer Beweis für die beiden oben aufgestellten Behauptungen: 1. daß mit fortschreitendem politischen Interesse der Kino zurückgedrängt wird. In gewissem Sinne können die hier Befragten alle als solche gelten, da sie gewerkschaftlich organisiert sind, und aus diesem Umstand erklärt sich die relativ geringe Kinofrequenz der hier Befragten. Das Gros der männlichen Kinobesucher wird mehr den jüngeren Schichten entstammen, sowie den politisch Indifferenten, und 2. daß unverheiratete Frauen aus Arbeiterkreisen nicht selbständig genug sind, um allein in den Kino zu gehen. Wenn im allgemeinen der Prozentsatz so hoch wäre wie bei diesen verheirateten Frauen, müßte das weibliche Element unter dem Kinopublikum noch weit stärker vorherrschen.


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lichen Aufgaben hinaus. Ihr Programm umfaßt auch das private Leben, und neben der Erreichung der beruflichen Ideale hat sie sich auch noch Kulturaufgaben gestellt. Theater und Konzerte werden als Mittel der Erziehung zum Besuch empfohlen, und sie werden deshalb schon von diesem Gesichtspunkt aus aufgesucht. Der Kinematograph in seiner heutigen Gestalt kann zwar erst in geringem Maße den Anspruch als Bildungsfaktor erheben. Immerhin wird er als solcher teilweise geschätzt.

Der Handwerker jedoch existiert heute mehr als Einzelindividuum. Sein ganzes persönliches Fortkommen, seine Sorgen und Mühen für die Entwicklung des Geschäfts sind letzten Endes allein maßgebend für seinen Standard of life, zu dem er sich emporringt Die beiden Betätigungen des Arbeiters, die Aufgaben in der Fabrik und die gewerkschaftliche Tätigkeit, soweit sie auf dies Ziel hinstreben, fallen für ihn zusammen. Der Beruf steht für ihn im Mittelpunkt seines Lebens.

Damit fällt der Einfluß, den die Gewerkschaft bei den Arbeitern auf die Ausbildung der kulturellen Interessen ausübt, für ihn fort. Seine Stellung zu Theater und Kino muß schon aus diesem Grunde eine andere sein als bei den Organisierten.1 Für den Handwerker sind Theater und Konzerte, sowie der Kino Dinge, die außerhalb seines Hauptlebensinhaltes, des Berufs, liegen.

Nur soweit sie dazu in gewisse Beziehung zu bringen sind, finden sie Beachtung. Das gilt z. B. für die Inhalte bestimmter Stücke. Baumeister und Dekorateure besuchen häufig den Kino, um aus den Ansichten von Gebäuden und Einrichtungen neue Anregungen zu schöpfen.2 Als selbständige Erscheinung haben Theater und Konzerte nur Bedeutung auf Grund einer gewissen Tradition, die in diesen Familien des kleinen Mittelstandes dafür sorgt, daß auch diese Seite des Lebens nie ganz verkümmere. Schon die Väter waren Handwerker, gehörten also einer Schicht an, deren Verhältnissen es entspricht, hie und da ins Theater oder in ein Konzert zu gehen. So gibt es wenige, die überhaupt nirgends gewesen sind.3 Doch bei keinem tritt ein ausgesprochen intensives Interesse für das eine oder andere zutage. Ein gelegentlicher Theater-  oder


1Lebhafteres Interesse findet sich bei keinem, und bestimmte Stücke werden überhaupt nicht genannt.

2Die Handwerkerkammer in Berlin hat übrigens auch noch auf andere Weise den Kinematographen für den Berufsgedanken verwendet. Sie ließ Filmaufnahmen in den verschiedenen Werkstätten machen, um die Berufswahl der schulentlassenen Knaben zu erleichtern und möglichst viele für den Handwerkerstand zu gewinnen.

3 Nur einen Schuhmacher.


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Konzertbesuch gehört mit zum guten Ton. Und man wählt nur "gediegene Stoffe", aus denen man womöglich "Belehrung schöpfen kann“. Von diesem Gesichtspunkt aus werden auch Naturaufnahmen und Reisebilder und besonders die Darstellung technischer Vorgänge durch den Film ganz besonders geschätzt. Sie haben praktischen Wert. Kinodramen aber und Operetten können diesen Anspruch nicht erheben, und da die Kinematographentheater vornehmlich diese Art Stücke bringen, gibt man "für derartigen Unsinn lieber kein Geld aus".1 Für einige wenige ist es der Ort, wo man mit der Familie am Samstagabend nach der Arbeit der Woche hingeht, um für ein paar Stunden "aus den ewigen Gedanken um das Geschäft" herausgerissen zu werden. Aber auch von ihnen wird diese Art der Unterhaltung nur sehr niedrig eingeschätzt. Das tatsächlich Gebotene ist ihnen bedeutungslos, und keinem einzigen hatte sich Titel oder Inhalt eines Stückes eingeprägt.

[Randbemerkung: Landhandwerker] Für die meist auf dem Lande ansässigen Handwerker ist das Resultat hinsichtlich des Theater  und Konzertbesuchs noch negativer, da zu den obigen widrigen Umständen noch die schwierige Erlangung hinzutritt. Unter ihnen gibt es deshalb eine größere Anzahl solcher, die nirgends gewesen sind, weder im Theater, noch im Konzert, noch in Lichtspieltheatern, oder aber sie haben sich während der Militärzeit einmal dies oder jenes angesehen. Diejenigen aber, die öfters in die Stadt kommen, haben wohl alles einmal kennengelernt. So ein Besuch in der Stadt ist ein seltenes Ereignis, und man sucht sich für die lange Abgeschlossenheit auf dem Lande zu entschädigen. Theatervorstellungen liegen zu ungünstiger Zeit; deshalb ist das Lichtspieltheater die gegebene Form des Vergnügens. So ergibt sich denn die zunächst befremdende Erscheinung, daß der Prozentsatz derer, die überhaupt einmal da waren, unter den Landbewohnern größer als unter den Stadtbewohnern ist, nämlich 75% (gegen 32% in Mannheim). Doch bleiben diese Besuche natürlich vereinzelt, und regelmäßige Kinobesucher gibt es unter ihnen überhaupt nicht.

Nur die Handwerker repräsentieren heute noch eine Schicht, bei der der Hauptinhalt des Lebens in dem beruflichen Ideal beruht, und die Arbeit ist nicht zur bloßen Kehrseite des Daseins geworden, die nur dazu da ist, die wirtschaftliche Grundlage für die eigentliche Existenz, die außerhalb des Berufes liegt, abzugeben. Solange diese Spaltung aber noch nicht eingetreten ist, können auch die außerhalb dieses Berufes


1Nur 11 waren überhaupt da, davon nur 4 regelmäßig.


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liegenden Gebiete, wie z. B. die Kunst, nur von nebensächlicher Bedeutung werden.

Sobald die Arbeit großbetrieblich organisiert wird, verschwindet diese Einheit immer mehr, und als Gegengewicht zu der damit verbundenen Mechanisierung der Tätigkeit sucht sich das Individuum einen Ersatz, indem es die freien Stunden möglichst angenehm zu gestalten sucht. Diese Doppellebigkeit mit ihrem Bedürfnis nach viel Vergnügungen, nach Stoffen, die der Persönlichkeit Nahrung geben, ist nicht nur der Klasse der Industriearbeiter eigen. In dem Maße, in dem auch in den anderen Berufen eine weitgehende Arbeitsteilung vor sich geht, wächst die Bedeutung, die Theater und Kinematographen sowie alle Arten von Vergnügungen haben.

[Randbemerkung: Gehilfen im Kaufmannsstand] Klar tritt dies hervor bei den Angehörigen des Kaufmannsstandes. In kleineren Städten, in kleineren Betrieben mögen sie noch einen mehr konservativen Zug zeigen, ähnlich wie die Handwerker. In Mannheim hat man es aber mit einer breiten Schicht solcher zu tun, die zum großen Teil zeitlebens nur kleine Teilfunktionen in dem großen kommerziellen Betrieb ausüben. Ihr Lebensschicksal zeigt deshalb eine gewisse Übereinstimmung mit dem der Industriearbeiter. Allerdings treten bei ihnen doch grundlegende Unterschiede in ihrer Stellung gegenüber den hier untersuchten Kulturerscheinungen zutage, die dieser Schicht ihr ganz besonderes Gepräge geben. Obwohl sie etwa aus denselben kleinbürgerlichen Kreisen stammen wie die jugendlichen Arbeiter und auch in der Mehrzahl die gleiche Vorbildung in der Volksschule genossen haben, hat sich doch bei ihnen ein ganz ausgeprägtes Standesbewußtsein entwickelt, und sie suchen sich auf alle Weise von den Arbeitern zu differenzieren. Was bei den Jüngeren, wenn erst ein gewisses Selbstbewußtsein erwacht ist, oft unnötig stark unterstrichen wird, das wird bei den Älteren eine ganz selbstverständliche Äußerung einer anderen Lebenseinstellung, z. B. besuchen sie nie die kleinen Kinos der Vorstädte; sondern schon der jüngste Kommis legt Wert darauf, in einem Theater zu sitzen, "das nicht so populär ist" und "in dem nur besseres Publikum verkehrt".

Ganz allgemein scheint aber das Gefühl für eine komfortable und angenehme Umgebung stärker entwickelt zu sein als bei den Arbeitern, vielleicht, weil diese auch den Tag über in ihren Bureaus mit keiner schmutzigen Arbeit in Berührung kommen und dadurch der Sinn für Sauberkeit und Bequemlichkeit mehr entwickelt wird.

War bei den jugendlichen Arbeitern ein langes Programm mit mög-


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lichst viel Sitten  und Detektivgeschichten ausschlaggebend für den Besuch eines bestimmten Theaters, so ist es hier in erster Linie die Rücksicht auf die Umgebung, auf "einen angenehmen Aufenthalt" und auf die übrige Gesellschaft im Saale. Darunter ist ein bequem ausgestatteter Raum und Publikum mit Stärkewäsche zu verstehen. Doch nicht allein in solchen Äußerlichkeiten beruhen diese Unterschiede. Theater, Konzert, Varieté und Vortragsbesuch gehören bei ihnen mit zu den Selbstverständlichkeiten des Lebens, und solche, die ausschließlich im Kino waren, fehlen selbst unter den 14jährigen fast ganz. Gelegentlich findet man das Gegenteil. Viele zeigen Theater  und musikalische Neigungen und bringen andererseits dem Kino keinerlei Interesse entgegen.

Doch nicht nur durch das größere Stoffgebiet, das sie beherrschen, mehr noch in der Form des Ausdrucks, in der Verteilung der Interessen auf die verschiedenen Gebiete kommt zweifellos ein kultivierterer Geschmack zum Ausdruck als bei dem Durchschnitt der Arbeiter. Jedoch ist es schwer, die einzelnen Merkmale dafür zahlenmäßig festzustellen. Wollte man den Geschmack mit einem charakteristischen Kennwort versehen, so wäre es "Lohengrin" für die jüngeren und "Wagner" für die älteren Schüler, bei denen zu Lohengrin noch Tannhäuser und der Nibelungenring getreten sind. 79 mal wurden Wagnersche Opern von 241 Handlungsgehilfen im Alter von 16-18 Jahren ausdrücklich als Lieblingsstücke genannt, und dabei mögen viele von denen, die einfach "Opern" oder "Musik" angaben, noch speziell an Wagner gedacht haben. Wagner, besonders Lohengrin, ist für sie ebenso wichtig und typisch wie etwa der Verbrecherkönig Zigomar für die unterste Schicht der jugendlichen Arbeiter. Überhaupt ist das musikalische Interesse stärker ausgeprägt als gewöhnlich, obschon zwar im ganzen Schauspiele noch ebensooft angegeben werden als Opern und Konzertstücke. Was aber bei den Handarbeitern eine Seltenheit war, nämlich daß die einzelnen bestimmte Lieblingskomponisten angaben, das ist hier schon ziemlich oft der Fall. Im Durchschnitt äußert sich die musikalische Vorliebe im häufigen Besuch von Militärkonzerten, die besonders bei den jüngeren Lehrlingen mit dem Begriff Musik geradezu identisch sind.

Innerhalb der Gesamtkaste lassen sich außer diesen allgemeinen Zügen andere feststellen, die sich von Jahr zu Jahr verändern und, miteinander verglichen, auf eine Weiterentwicklung des Geschmacks im Laufe der Jahre schließen lassen. Das tritt am deutlichsten her-


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vor in der Bedeutung, die die Kinematographentheater in den verschiedenen Altersstufen einnehmen.

Mit dem zunehmenden Verdienst von Jahr zu Jahr stieg von 14 Jahren ab auch die Häufigkeit des Kinobesuchs bei den einzelnen, und die Zahl der wöchentlichen Kinobesucher verdreifachte sich. In demselben Maße nahm der prozentuale Anteil der seltenen Besucher in jedem weiteren Jahrgang ab.

Doch nur bis zu einer gewissen Altersgrenze scheint die Vorliebe für den Kino anzuhalten und gerade im 17. und 18. Lebensjahre ihr Maximum zu erreichen. Von da ab wendet sich das Interesse mehr auf andere Gebiete, und in keinem Lebensalter konnte eine derartige Intensität des Besuches mehr festgestellt werden.

Detektiv  und Sittendramen ebenso wie Akrobaten zählen auch unter den Handlungsgehilfen, wie bei allen jungen Leuten, mit zu den beliebtesten Unterhaltungen; aber sie rangieren in der Gesamtheit der Interessen doch erst an zweiter und dritter Stelle. Dafür ist der Sinn für die Natur stärker entwickelt und äußert sich hier in der häufigen Angabe von Naturaufnahmen, die in ebenso großer Gunst stehen als Dramen. Wie überall bilden diese jedoch die Hauptattraktion für die wöchentlichen Kinobesucher.

Von Jahr zu Jahr ändert sich der Geschmack. Während sich bei den kaum der Volksschule Entlassenen auch fast dieselben Interessen zeigten wie bei den Schulkindern, die hauptsächlich für Indianer  und historische Stücke schwärmten, traten bei den Älteren neben Indianergeschichten auch Sensationsdramen stärker hervor. Später interessieren fast ausschließlich die letzteren. Die Vorliebe für Humoresken ist relativ am stärksten in ganz jugendlichem Alter; dann kommt eine Zeit, wo Dramen und Naturaufnahmen mehr in den Vordergrund treten und ein gIeichstarkes Interesse beanspruchen, während es sich bei den 16 und 17 jährigen im verstärkten Maße den Dramen zuwendet. Am häufigsten werden durchgehend Asta Nielsen Dramen, "Der Eid des Stephan Huller" und "Die vier Teufel" neben sehr zahlreichen Naturaufnahmen genannt.1


1Diese Stücke hatten zur Zeit dieser Enquete gerade einen außerordentlichen Erfolg in Mannheim erzielt. Da nun aber andererseits von den Handlungsgehilfen fast ausschließlich die Theater besucht werden, in denen sie gespielt worden waren, und der Kino sich unter ihnen im allgemeinen einer sehr großen Beliebtheit erfreut, so kann man daraus folgern, daß sie einen großen Prozentsatz des Kinopublikums überhaupt ausmachen Die Programme der hier in Frage kommenden Theater, besonders die früher erwähnten Schlagerprogramme, sind also ziemlich ein Spiegelbild des Geschmackes innerhalb dieser Schicht, soweit es sich dabei um den Kino handelt.


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Nicht nur für die jeweils am meisten bevorzugten Filmdarstellungen, auch für die gesamte Geschmacksentwicklung in den Jahren von 14—18 könnte man drei typische Stufen aufstellen, die im großen und ganzen ein Abbild der jungen Handlungsgehilfen in den verschiedenen Jahrgängen sind.

Die Masse derer, die den primitivsten Typus repräsentieren, sieht etwa so aus: ein großer Teil, etwa 20%, hat überhaupt noch nichts gesehen. Die übrigen waren in einer Tellvorstellung, einzelne haben auch noch dies oder jenes andere klassische Stück besucht. Sie sehen sich besonders gerne Ringkämpfer und Akrobaten an. Ihren musikalischen Anforderungen entsprechen die Militärkonzerte. Der Kinobesuch ist ziemlich schwach (etwa 33% waren im Kino), aber im Verhältnis zu Theater  und Konzertbesuch noch rege. Verschiedene sind darunter, die öfters im Kino waren, dagegen nie in einem Theater, in einem Konzert oder in einem Vortrag. Der Geschmack ist ausschließlich auf Detektiv  und Räuberdramen gerichtet; nebenbei finden auch einzelne Humoresken etwas Anklang. Der Sonntag ist dem Kinobesuch vorbehalten, und man geht in diejenigen Theater, die möglichst viel Aufregung und Sensation für wenig Geld bringen.

Dieser primitivsten Stufe entspricht ein Durchschnittstyp, der etwa folgenden Gesichtskreis hat: Die Zahl derer, die nirgends gewesen sind, ist gegenüber den vorigen beträchtlich gesunken. Die Mehrzahl hat neben verschiedenen Theatervorstellungen auch etliche Konzerte besucht und zeigt ein allerdings wohltemperiertes Interesse für wissenschaftliche oder berufliche Vorträge. Der Stoffkreis ist außerdem um einige Dramen, etwa Wallenstein, Maria Stuart, oder um Glaube und Heimat vermehrt worden. Einige Opern, meist Lohengrin, und die moderne Operette gehören ebenfalls dazu. Einzelne, mit tieferem musikalischen Interesse, nennen auch schon Beethovensche Symphonien oder Streichmusik ganz allgemein.

75% etwa besucht den Kino oder hat sich die Sache zum mindesten einmal angesehen. Ausschlaggebend für den Besuch ist jetzt nicht mehr das Viel und Billig, sondern das Programm. Es muß Naturaufnahmen und ein Großstadtdrama bringen.

Schwieriger wird die Charakterisierung des am höchsten entwickelten Typus, da eine Fülle von Interessen in ihm zusammentreffen.1 Im


1Zu dieser Gruppe gehören die meisten, die das einjährige Zeugnis haben. Bei diesen Einjährigen war die Häufigkeit des Kinobesuchs geringer als bei den Lehrlingen mit Volksschulbildung, z. B. gab es unter ihnen nur 18% wöchentlicher Besucher gegen 40% unter den Volksschulabsolventen.


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wesentlichen unterscheiden sie sich von den übrigen in einer weiteren Vertiefung der Theater  und musikalischen Neigung (während die intelligentere Schicht der Arbeiter z. B. im allgemeinen ihre Bildung durch Besuch von Vorträgen und Führungen in der Kunsthalle zu erweitern suchte). Bei diesem gehobenen Typus der Handlungsgehilfen stehen Wagnersche Opern im Brennpunkt des Interesses, besonders der Nibelungenring und Tannhäuser. Außerdem haben viele die Mahlerfeier mitgemacht, und sie hören außerdem die Symphoniekonzerte regelmäßig an. Besonders waren das diejenigen, die selbst Musik trieben.

Obwohl sie außerordentlich oft im Kino sind, entsprechen doch nur wenig Stücke ihrem Geschmack. Am ehesten noch Asta Nielsen- Dramen, "Der Eid des Stephan Huller" oder "Die vier Teufel". Außerdem erregen einzelne Vorgänge in der Natur, Bilder aus fernen Ländern, sowie technische Einzelheiten kinematographischer Darstellungen besonders lebhaftes Interesse. Im allgemeinen sind es aber weniger bestimmte Films, die ihren Geschmack charakterisieren, als vielmehr der Umstand, daß sie überhaupt soviele Stunden im Kino verbringen.

Dieses Nachlassen des Interesses für die Filmdarstellung trotz des noch immer außerordentlich lebhaften Besuchs ist ein Symptom für eine ganz veränderte Stellung zum Kino überhaupt. Die Motive, die den Besuch veranlassen, sind nicht dieselben geblieben. Während bei den jüngeren Schülern stoffliches Interesse die Triebfeder war, kommen in den späteren Jahrgängen immer häufiger die Antworten: "aus Langeweile" oder "um die Zeit totzuschlagen". Damit ist aber ein ganz wichtiger Punkt zur Erklärung der Kinofrage überhaupt berührt, aus dem zum Teil der große Besuch sich ableiten läßt. Die Langeweile, von der der Kino profitiert, ist in der heutigen Zeit trotz des Vielbeschäftigtseins oder vielleicht gerade deswegen eine typische Erscheinung und ist besonders oft in bestimmten Berufen zu finden. Was bei den einen ein vorübergehender Zustand, das tritt bei anderen, und mir scheint gerade in den Kreisen der jungen Kaufleute, häufig als Dauerzustand auf. Der junge Handlungsgehilfe hat um 7 Uhr abends seine Bureaustunden abgesessen, und es bleibt noch eine lange Zeit übrig, die auf irgendeine Weise verbracht sein will, die oft genug eine langweilige Brücke zum nächsten Morgen bildet. Besonders bei den ganz Jungen sind aber selten andere Interessen lebendig genug, um die Öde des Daseins auszufüllen. Häufigen Theater-oder


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Konzertbesuch gestatten die pekuniären Verhältnisse nur den Bessergestellten; aber mit ganz wenigen Ausnahmen bleiben auch sie im besten Falle rein rezeptiv, ohne daß die daselbst gewonnenen Eindrücke eine Erweiterung ihrer eigentlichen Lebenssphäre bedeuteten. Daher erklärt sich auch die wahllose Angabe der besonders bevorzugten Stücke, aus deren Zusammenstellung ein in einer bestimmten Richtung entwickelter Geschmack selten hervorgeht. Zu tieferer Beschäftigung mit künstlerischen Dingen fehlt ja auch den meisten die Anleitung und die genügende Bildungsgrundlage. Sich den gemeinsamen Lebensidealen des Proletariats anzuschließen, erlaubt das Standesbewußtsein nicht. Die einzelnen kaufmännischen Verbände aber erstrecken ihre Tätigkeit meist nur auf rein berufliche Angelegenheiten. Andererseits kann für die Mehrzahl bei der immer weitergehenden Schematisierung auch der Bureauarbeit, der die einzelnen lebenslang in untergeordneten Stellungen hält, dieser Beruf das Interesse nicht mehr voll und ganz ausfüllen, wie das z. B. bei den Handwerkern der Fall ist. So bleibt ein großer Teil dieser Schicht in planloser Einzelexistenz und sucht nun das Leben mit möglichst viel Abwechslung herunterzuleben. Hie und da finden sich einzelne, die es verstanden haben, meist in späteren Jahren erst, ihrem Leben Ziel und Inhalt durch die Ausbildung irgendwelcher Interessen zu geben. Für viele aber, für die Jüngeren fast ohne Ausnahme, ist allein der Kino geeignet, um die unbeschäftigten Stunden auszufüllen, trotz der gleichzeitig geübten scharfen Kritik. Daß dennoch fast die Hälfte der jungen Handlungsgehilfen wöchentlich mindestens einen Abend in einem Lichtspieltheater verbringt, ist einmal dessen großer Beliebtheit als Aufenthaltsort "mit der Freundin" zuzuschreiben; im übrigen erklärt sich der Besuch aus der Langeweile, die die jungen Leute plagt, und dann ist, wenn auch uneingestanden, der Reiz eines gewissen Nervenkitzels eine der Triebfedern.

Kommt dieser erste Vorzug für die älteren, meist verheirateten Kaufleute nicht mehr in Betracht, so verlieren auch die Kinematographentheater mehr und mehr von ihrer Beliebtheit. Für wenige bleiben sie nach wie vor eine immerhin von Zeit zu Zeit ganz geschätzte Abendunterhaltung. Andere halten es scheinbar schon für eine Beleidigung überhaupt, eine derartiges Interesse bei ihnen zu vermuten. Allesamt im Prinzip aber nehmen sie eine entschieden ablehnende Stellung ein und führen ihre persönlichen Gründe an, von denen aus sie den Kino in seiner Gesamtheit oder auch nur in seinen Auswüchsen


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verdammen. Wie allerdings sich ihr Geschmack genauer orientiert, das geht aus den allgemeinen Äußerungen, mit denen auf die Frage nach Stücken, die ihnen besonders gefallen hätten, geantwortet wird, nur unklar hervor. Mit der Unumstößlichkeit eines Dogmas wird da behauptet: "Alles was gut und schön dran war" oder "alles in seiner Art, wenn es wirklich auf der Höhe war". Nun sind die Ansichten gerade darüber bei den einzelnen sehr verschieden, was mir besonders bei dieser Enquete klar geworden ist. Jedenfalls entsprechen die Durchschnittsleistungen der Kinematographen "dieser Afterkunst", diesem Maßstab nicht, und sie werden höchstens einmal aufgesucht, um die Zeit zu vertreiben. Allenfalls läßt man Naturaufnahmen noch gelten, besonders "als Bildungsmittel für das Volk", und hie und da vermag auch einer einem Drama Geschmack abzugewinnen.

[Randbemerkung: Gehilfinnen im Kaufmannsstand] Ebenso wie bei den männlichen Kaufleuten scheint auch bei den jungen Mädchen der Kinobesuch hauptsächlich einem ganz bestimmten Alter zu entsprechen, um dann nach und nach an Bedeutung zu verlieren. Jedoch wird er selbst in den Jahren des lebhaftesten Besuches nie so sehr zum wichtigen Bestandteil ihres Lebens wie bei den Knaben. Im ganzen befinden sich unter allen Befragten nur 63% Kinobesucherinnen überhaupt, gegen 79% bei männlichen Handelsangestellten.1 Noch klarer tritt aber das viel geringere Interesse zutage, wenn man die Zahlen der regelmäßigen Besucher gegenüberstellt. Sie verhalten sich wie 11:21. Die Ursache für diese Erscheinung liegt sicherlich teilweise in der größeren Unselbständigkeit der jungen Mädchen begründet. Die Tochter ist immer viel fester eingespannt in den Rahmen der Familie, und über die Verwendung der freien Zeit sprechen die Eltern ein gewichtiges Wort mit. Allein vollends wird sie selten etwas unternehmen. Auch die Kinematographentheater besucht sie von Zeit zu Zeit mit der Familie, in späteren Jahren mehr noch mit dem "Freund" oder mit der "Bekanntschaft", viel seltener mit Freundinnen. Doch scheint, abgesehen von dieser größeren Abhängigkeit, die einem regelmäßigen Kinobesuch hindernd im Wege steht, das tatsächliche Interesse nicht so groß zu sein; sonst müßte es doch mit dem Alter mit zunehmendem Verdienst und dementsprechend größerer Selbständigkeit in einer vermehrten Besuchsintensität sich


1Dabei fehlt der starke Einschlag von Landbewohnern, die besonders in den unteren Knabenklassen der hier zugrunde liegenden Handelsfortbildungsschüler eine geringere durchschnittliche Besucherzahl verursachen, in der Mädchenabteilung fast ganz; denn die Mehrzahl von ihnen ist schon lange in Mannheim ansässig.


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äußern, wie das bei den Handlungsgehilfen der Fall ist. Ganz im Gegenteil liegt hier das Maximum des Besuchs bei den 14  und 15 jährigen und nimmt dann von Jahr zu Jahr ab.

Fast ausschließlich die besseren Theater werden besucht, und deren Programme bringen es schon mit sich, daß Räuber  und Detektivdramen nur selten genannt werden, ebensowenig die Stücke etwa im Geschmack der "Asphaltpflanze" oder "Sündige Liebe". Auch zeigen die Mädchen nur wenig Begeisterung für Indianerstücke und historische Sachen. Schon bei den 14jährigen gilt das Hauptinteresse den Liebesgeschichten, und zwar vornehmlich solchen Stücken, die mit ihren Stoffen dem Leben dieser Mädchen nahestehen oder die ihnen den Abglanz der großen Welt widerspiegeln. Meist handelt es sich um das Schicksal einer Frau aus dem Volke, die nach vielen Irrungen mit dem moralischen Untergang oder "in einem stillen Glück" endet. Die meisten derartigen Dramen zeichnen sich durch einen stark sentimentalen Zug aus, was schon aus der Zusammenstellung einer Reihe von charakteristischen Titeln hervorgeht, die aus den Antworten der Handlungsgehilfinnen entnommen sind: "Die Rose der Mutter", "Fräulein Frau", "Der Leidensweg einer Frau", "Die Kontoristin", "Frauenschicksale". In allen stehen die Herzenskonflikte einer Frau im Mittelpunkt. Danach ist es fast selbstverständlich, daß Asta Nielsen in den Stücken von Urban Gad außerordentlich gefällt und große Bewunderung erregt. Das leidenschaftliche Temperament der Heldin und Schuld und Schicksal, in die sie dadurch verstrickt wird, entsprechen dem Bild, das sie sich vom Leben machen, und sie vermögen sich deshalb voll und ganz hineinzuversetzen.

Neben den Dramen erregen die Naturaufnahmen ein ebenso starkes Interesse als bei den männlichen Kollegen. Doch scheint ihre Stellung dazu eine andere zu sein als bei jenen. Die jungen Männer nennen mehr Bilder aus fernen Ländern und wissenschaftliche Aufnahmen. Ein Interesse am Inhalt liegt dabei in erster Linie zugrunde. Die Mädchen antworten viel allgemeiner, und die Vorliebe scheint hauptsächlich in ästhetischen Empfindungen zu wurzeln. Sie geben z. B. häufig Wasser  oder Meerbilder an, wie "Italienischer Wasserfall" oder einfach "Wasserfälle oder Wellenbewegung" und "treibende Eisberge", ohne jedoch irgendwelche genauere Bezeichnung hinzuzufügen.

Komische Bilder sind dagegen weniger beliebt als bei den männlichen Kollegen. Im allgemeinen ist die Interessenintensität auf die einzelnen Gebiete der kinematographischen Darstellung bei beiden


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gleichmäßig verteilt, aber bei den Mädchen allgemein schwächer ausgeprägt. Nur tritt bei Lehrlingen in den Oberklassen die Vorliebe für Dramen ausgesprochener hervor. Diesem lauen Interesse für Lichtspieltheater entspricht ein um so regerer Theater  und Konzertbesuch; doch präzisiert sich der Geschmack auch auf diesen Gebieten charakteristischerweise nur wenig. Augenscheinlich haben schon die 14  und 15jährigen Mädchen durchschnittlich mehr gesehen als die gleichaltrigen Knaben. Ihr Geschmack ist von vornherein stark nach der musikalischen Seite hin entwickelt. In der Art, sich diese Genüsse zu verschaffen, gehen sie andere Wege als die Knaben. Bei den letzteren ist im Alter von 14 Jahren die Musik gleichbedeutend mit Militärmusik, wobei neben den musikalischen auch noch die patriotischen Gefühle zur Auslösung kommen. Dieser Zug fehlt bei den Mädchen ganz; vielmehr entsprechen ihrem Geschmack von vornherein mehr Opernmelodien. Neben Wagnerscher Musik, die etwa in gleichem Maße geschätzt wird wie von den jungen Handlungsgehilfen, werden viel häufiger als bei jenen die romantischen Opern, wie Mignon, Martha und Tosca, genannt. Sehr beliebt ist auch die weiche Musik der Kinokapellen, und in noch stärkerem Maße als für die Lehrlinge bilden sie das ausschlaggebende Moment bei der Wahl der Kinematographentheater. Diese Freude an der Musik führt jedoch bei ihnen ebensowenig wie überhaupt bei den Frauen der unteren und mittleren Schichten zu einer Vertiefung und Entwicklung des Geschmacks. Konzerte werden von ihnen häufiger besucht als von den Männern, fast niemals jedoch bestimmte Musikstücke oder Lieblingskomponisten genannt. Mit Musik scheint sich bei den Frauen etwas rein gefühlsmäßig Erlebtes zu verbinden, mit dem der Verstand so wenig zu tun hat, daß sogar die Titel Nebensache bleiben. Soweit überhaupt Gebiete in Betracht kommen, die durch den Intellekt aufgefaßt werden, bleiben die Mädchen hinter den männlichen Kollegen zurück. Dieser weniger auf das Reale, auf die Einzelerscheinungen des Lebens gerichteten Veranlagung entspricht auch das sehr geringe Interesse für Vorträge und wissenschaftliche Filmaufnahmen. Nur ganz wenige besuchen Vorträge.

Im allgemeinen geht ihr Geschmack weder auf allzu hohe und ernste Gebiete, noch verirrt er sich in die Niederungen ausgesprochener Abgeschmacktheit. Es finden sich unter ihnen weder solche, die für Bach, für Beethoven, für religiöse Fragen und soziale Probleme, soweit sie nicht durch Kinodramen konkretisiert sind, Interesse zei-


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gen, noch beschränken sie ihre Ansprüche jemals auf Akrobaten, Märsche und Detektivdramen.

[Randbemerkung: Die übrigen Schichten] Für die Frauen der oberen Schichten, soweit man es nicht mit einer kleinen geistigen Elite zu tun hat, gilt im wesentlichen dasselbe wie von den hier im einzelnen betrachteten jungen Handlungsgehilfinnen, nur daß sie, soweit sie nicht auch durch irgend einen Beruf in ihrer Zeit beschränkt sind, noch viel häufiger in den Kino gehen als diese. Besonders sind es Asta Nielsen Dramen und historische Stücke, wegen deren sie die Vorstellungen besuchen. Und je unkomplizierter und sorgenfreier ihr eigenes Leben ist, um so mehr suchen sie durch Miterleben der einzelnen Stücke einige Sensationen hineinzutragen. In die kleinen Städte bringt der Kino den Abglanz der großen Welt und zeigt den Frauen, wie man sich in Paris anzieht, was für Hüte man trägt. Mit Sensationen und Sensatiönchen hilft so der Kino über die vielen öden Stunden des Tages hinweg, die mit fortschreitender Vereinfachung der häuslichen Verrichtungen immer zahlreicher werden. Dem weiblichen Geschlecht, dem doch im allgemeinen nachgesagt wird, daß es rein und gefühlsmäßig einen Eindruck immer in seiner Gesamtheit aufnimmt, muß ja die kinematographische Darstellung besonders leicht zugänglich sein. Dagegen scheint es für intellektuell sehr ausgebildete Menschen direkt schwierig, sich in die im einzelnen oft zusammenhangslos aneinandergereihten Handlungen hineinzuversetzen. Verschiedentlich sagten Personen, die gewohnt sind, alles rein verstandesmäßig zu erfassen, daß es ihnen außerordentlich schwer falle, den Zusammenhang einer Filmhandlung zu begreifen.

Von einem Geschmack der erwachsenen Angehörigen der oberen Schichten hinsichtlich der kinematographischen Darbietungen kann man kaum reden. Sie haben keinen, wohl aber eine Stellung zum Kino als Gesamterscheinung. Bezeichnenderweise wurde selbst von regelmäßigen Kinogästen, die ihre Ansicht hierüber sehr genau präzisierten, die Frage nach den besonders beliebten Stücken nur selten beantwortet.

Man lehnt, von künstlerischen Gesichtspunkten, die Filmdarstellungen überhaupt ab.1 Man vermag auch den Naturaufnahmen nicht mehr als einen gewissen didaktischen Wert, "besonders für die unteren Stände", beizumessen, und dennoch geht man hin, geht sogar ziem-


1Nur hie und da regen sich (meist unter den jüngeren Leuten) Stimmen, die sowohl in der Ausstattung, als auch in der Ausdrucksart berühmter Kinoschauspieler schon heute achtungswerte Leistungen erblicken, die noch viel weiter zu einer neuen Art darstellender Kunst führen können.


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lich häufig hin. Des Abends, wenn gerade nichts anderes auf dem Programm steht, die Frauen noch lieber am Nachmittag, wenn sie Einkäufe besorgt haben, um sich von dem Getriebe der Kaufhäuser und der Straßen anstatt im Café im Lichtspieltheater auszuruhen. Auf diese Weise waren von rund 100 Personen etwa 80 überhaupt einmal im Kino und 60 sogar regelmäßig. Die letzten stammen ausschließlich aus dem Offiziers-  und Kaufmannsstand, während die Berufe mit akademischer Bildung (Studenten eingeschlossen) die prozentual niedrigste Zahl von Kinobesuchern überhaupt, als auch von wöchentlichen Besuchern aufweisen. Ob das Bedürfnis nach leichter Unterhaltung neben den übrigen geistigen Interessen in diesen Schichten nicht so stark ist, oder ob sie in einer anderen Form gefunden wird, die den Kino ersetzt, ist schwer festzustellen. Vielleicht erhält die durch den Beruf gebotene abstraktere Art des Denkens eine größere Leichtigkeit, sich in den Freistunden selbst an schwereren Dingen zu erholen, ohne daß es dazu großer Anstrengung zur Konzentration bedarf.

Die Angehörigen derjenigen Berufe aber, deren Tätigkeit mehr auf unmittelbar praktische und greifbare Ziele gerichtet ist, sind erst nach einer absoluten Neuorientierung ihres ganzen Denkapparates imstande, Kunst zu genießen. Dazu bedarf es aber einer geistigen Anstrengung, und deshalb greifen sie in ihren Erholungsstunden lieber zu ganz leichter Unterhaltung, um sich aus dem beruflichen Gedankenkomplex herauszubringen.1 "Abends bin ich zu müde, um mich noch mit so schweren Dingen abzugeben wie Theater und Konzert", wurde verschiedentlich geantwortet, "und deshalb gehe ich in ein Kinematographentheater".

Neben der beruflichen Anspannung nehmen obendrein noch hundert andere Dinge, Vereinstätigkeit, gesellschaftliche Verpflichtungen und deren Forderung, über die neuesten Erscheinungen im Theater und in der Kunsthalle notdürftig orientiert zu sein, die Politik und die moderne Literatur bis zu einem gewissen Grade zu beherrschen, den Menschen in Anspruch. Verpflichtungen dieser Art haben alle Angehörigen dieser Schicht, und in dem Maße, in dem diese vielseitigen Interessen den Menschen unter sich aufteilen, wächst das Bedürfnis 


1Am ausgesprochensten tritt das Bedürfnis nach einem derartigen Gegengewicht, das keinerlei weitere Ansprüche an das Individuum stellt, sondern bloß zerstreuen soll, bei Kaufleuten, Ingenieuren und Offizieren zutage. Der lebhafte Kinobesuch bei den letzteren erklärt sich wohl außerdem daraus, daß ihr Beruf ihnen mehr freie Zeit übrigläßt als den beiden anderen Gruppen.


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nach einem Gegengewicht, nach etwas, das einmal gar keine Anforderungen an das Individuum stellt. Leichte Form der Unterhaltung, bei der weiter gar nichts gewonnen werden soll, wird zur Notwendigkeit. Andre wieder, die viel Zeit und wenig Interessen haben, sie auszufüllen, finden im Kino das geeignete Surrogat, um sich zu zerstreuen, um Sensationen zu erleben. Irgend etwas muß da sein, um diesen vielseitigen Bedürfnissen: dem Wunsch, sich zu zerstreuen, sich auszuspannen von den Anforderungen, die das Leben an den modernen Menschen stellt, der Langeweile und dem Sensationshunger zu genügen; und wäre der Kinematograph nicht erfunden worden, so hätte irgendeine andere Möglichkeit an seine Stelle gesetzt werden müssen Vielleicht hätten Cafés mit Künstlertruppen oder Varietés eine noch größere neue Entwicklung erlebt. So hat sich im Kino das geeignete Mittel gefunden, das weit über den Rahmen des bisherigen Unterhaltungsapparates hinaus Macht und Bedeutung gewonnen hat. Wenn er dabei auf benachbarte Gebiete übergreift und das Publikum auch von Theater  und Konzertbesuch ablenkt, was nach den Klagen der Theaterdirektoren über schlechtere Geschäfte ihrer Unternehmungen der Fall zu sein scheint, so sind daran wohl nur jene Massen schuld, denen Theater und Konzert nie mehr war als eine momentane Zerstreuung. Aber gerade das ist es, was alle Angehörigen dieser Oberschicht vom Kino verlangen, nicht mehr als lediglich Unterhaltung, Gelegenheit, einmal herzhaft zu lachen; aber das Theater oder irgendeine andere Form künstlerischen Erlebens soll und kann er ihnen keineswegs ersetzen. Er entspricht überhaupt einer ganz anderen Art von Bedürfnissen. Wenn sich deshalb der Kinematograph an die Lösung hoher, künstlerischer Aufgaben wagt, so scheint vielen das direkt verfehlt. Aus diesem Gefühl heraus sehen sie auch die versuchte Hebung des Niveaus der Darbietungen durch die Mitarbeit von berühmten Künstlern als einen Versuch am untauglichen Objekt an. Es würde damit die wohltuende Naivität und Einfachheit der Darstellung aufgehoben, sofern nicht gar ein bloßes Herabzerren künstlerischer Arbeit zu der Flachheit der Durchschnittsleistung überhaupt der einzige Erfolg wäre. Dennoch sind die Anforderungen, die sie stellen, gar nicht so gering, und dem, was dem kultivierten Großstädter in ästhetischer Hinsicht noch gerade erträglich ist, entspricht der Durchschnitt des Films noch keineswegs. "Die rührselige Tendenz der Stücke, die Übertreibung der Gesten" und die oft sehr geschmacklose Aufmachung verletzen sehr viele. Andere empfinden sogar den ureigenen Charakter des


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Kinos, die rasche Aufeinanderfolge von Lustigem und Traurigem, als unerträglich.

Für die Mehrzahl ist die Qualität der Films gar nicht bedeutungsvoll, da ihr Eindruck doch nie über den Augenblick hinaus lebendig bleibt; sondern andere Motive bestimmen sie, in die Kinematographentheater zu gehen. Wirkliches Interesse an den Darbietungen bildet am häufigsten noch bei Kaufleuten und bei Frauen die wahre Anregung. Bei ganz wenigen ist die Freude daran aber stark genug, um sie zu veranlassen, allein in den Kino zu gehen; nur einzelne Junggesellen greifen wohl aus Langerweile einmal von sich aus zu diesem Rettungsanker. Für die Verheirateten gibt die Frau, häufiger noch für die jungen Leute das Verhältnis die Anregung dazu. Für den begleitenden Herrn ist "sie" dann aber angeblich mehr das Objekt der Beobachtung als die Vorgänge an der weißen Wand. "Sie ist immer bis zu Tränen gerührt", und überhaupt sind psychologische Studien an den Besuchern, noch häufiger an den Besucherinnen, vielen weit amüsanter als die Films und für viele ein Grund, hin und wieder eine Stunde im Kino zu verbringen.

Fragt man alle diese Besucher, warum sie nun eigentlich in den Kino gehen, so zucken sie meist die Achsel. "Faute de mieux", antwortete einmal eine Dame. Dieses "mieux" sieht aber nun für die einzelnen sehr verschieden aus. Jedenfalls vereinigt der Kino von allem genug in sich, um es zu ersetzen, und damit gewinnt er eine mächtige Wirklichkeit, vor der alle Fragen, ob sein Dasein gut oder schlecht oder überhaupt berechtigt sei, nutzlos sind.