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3. RESULTATE

Im Kinematographen haben wir es also mit einer Erscheinung zu tun, zu der die meisten Durchschnittsmenschen, soweit sie überhaupt im Strome der Zeit mitschwimmen, irgendeine Beziehung haben. In dem Maße jedoch, in dem sie durch den Beruf, in dem sie stehen, mehr in einer früheren Zeit wirtschaftlicher Verfassung wurzeln (siehe die niedrige Besuchsfrequenz bei den Handwerkern) oder durch ihre sonstige Lebenseinstellung mehr von dem allgemeinen breiten Boden losgelöst sind und in einer Welt leben, zu der sie durch bestimmte Einflüsse in ihrem Leben gekommen sind (wie einzelne, die besonders wissenschaftlich oder parteipolitisch interessiert sind), verliert er an Bedeutung. Der Kino ist eben in erster Linie für die modernen Menschen da, die sich treiben lassen und unbewußt nach den Gesetzen leben, die die Gegenwart vorschreibt.


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Aus dieser Gegenwart und ihrer Gewordenheit, aus der Gesamtkonstellation der Kulturerscheinungen ist er auch einzig zu begreifen. Mit den neuen Anforderungen, die ein Jahrhundert der Arbeit und der Mechanisierung an die Menschen stellte, mit der intensiveren Anspannung und Ausnützung der Kräfte, die für den einzelnen der Kampf ums Dasein mit sich brachte, mußte auch die Kehrseite des Alltags, das Ausruhen in etwas Zwecklosem, in einer auf kein Ziel gerichteten Beschäftigung ein größeres Gegengewicht bieten. Und dennoch hätten die Tausende von Lichtspieltheatern nicht entstehen können, wenn nicht zugleich eben durch jene Intensivierung der Arbeit und der dadurch herbeigeführten Konzentration der Arbeitszeit auf weniger Stunden auch der breiten Masse der Besuch derartiger Vergnügungen ermöglicht worden wäre. Auch kam mit fortschreitender Industrialisierung mehr bares Geld unter die Leute.

Die lange Freizeit und bessere Löhne der arbeitenden Klassen, das sind zwei Umstände, die zum Verständnis derartig moderner Gebilde sehr wichtig sind.

Und doch hat auch der Kino schon Vorgänger, die denselben Bedürfnissen entsprachen, die heute in so auffallend starkem Maße hervortreten. Er steht heute an der Stelle, wo alle die Arten von bloßen Unterhaltungsmitteln von jeher gestanden haben, die jeweils ihre Berechtigung einfach durch ihr mächtiges Dasein gefordert haben. Nur ist den einzelnen die Notwendigkeit eines solchen Gegengewichts vielleicht nie so klar zum Bewußtsein gekommen wie heute. Die Mehrzahl gibt auf die Frage, was sie im Kino suchen, einfach "Zerstreuung und Unterhaltung" an, nicht etwa Belehrung oder Erhebung. Es ist der Ort, an dem keinerlei geistige Anstrengung verlangt wird, wo man mühelos die größten Sensationen erlebt. Wo ein Individuum seine Erholung mehr in der Beschäftigung mit der Kunst sucht, da verliert der Kino an Boden. Das setzt aber eine tiefe kulturelle Bildung der einzelnen voraus, die ermöglicht, daß die Beschäftigung mit schwereren Stoffen so ganz der übrigen Sphäre des Fühlens und Denkens entspricht, um sich wie spielend einzuordnen. Andererseits kann natürlich auch eine bewußte Lebensdisziplin die Pflege einer wertvolleren Art der Unterhaltung veranlaßt haben. Doch wer hat dazu heute noch den Willen und die Zeit, wo Theater und bildende Kunst so ihre eigenen Wege gehen und mit dem alltäglichen Leben kaum in Einklang zu bringen sind! Der Mensch, der ein künstlerisches Erlebnis haben will, muß sich möglichst von der Erde und von aller Wirklichkeit los-


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reißen. Ein Ausruhen von der Arbeit darf aber nicht neue Anforderungen an das Individuum stellen. Solange die Beschäftigung mit der Kunst also nicht ganz Spiel wird, solange z. B. ein didaktisches Interesse dabei ist, wird nebenher der bloße Schautrieb auf andere Weise sich Nahrung suchen. Der Durchschnittsmensch braucht etwas, das seine Sinne mühelos beschäftigt.

Jahrzehntelang war die Forderung nach leichter Unterhaltung als etwas Nichtseinsollendes verneint und unterdrückt worden. In einem Zeitalter, in dem der Rationalismus herrschte, in dem das Augenmerk vornehmlich auf den Zweck alles Tuns gerichtet war, wurde die Forderung nach einer künstlerischen Durchdringung aller Lebensgebiete zum Programm. Jede Kaffeehausunterhaltung, jeder Theaterbesuch mußte um jeden Preis das Individuum um etliches bereichern, ihm einen Wert hinzufügen. Und nur zu leicht nahm man den Schein davon, die äußeren Anzeichen für das Echte. Alle Vergnügungen, alle Formen der "bloßen Unterhaltung" waren sozusagen illegitim.

Die Mehrzahl der Gebildeten steht heute noch so fest in dieser Auffassung, daß sie zum Kino in eine ganz sonderbare Zwitterstellung kommen. Man geht hin, aber immer mit einem verlegenen und beschämten Gefühl vor sich selber. Dabei ist das Bedürfnis nach bloßer Zerstreuung, nach Sensationen noch lebendiger, als es vielleicht je gewesen ist.

Früher gab es Volksfeste, festliche Umzüge und gelegentliche Schaustellungen wandernder Künstlertruppen. Was das Volk da in erster Linie suchte, war das Außergewöhnliche, das seinem Ideenkreis Zugängliche und doch nicht Alltägliche. Die Freude am Schauen war es, die da auf ihre Rechnung kam, und derselbe Trieb ist es, der die Mehrzahl der Menschen auch heute zu den Schaubühnen, ins Theater und in die Kinematographen führt. Damals waren die Vergnügungsarten eine Schöpfung des gesamten Volkskörpers, den jeweiligen Bedürfnissen und dem herrschenden Geschmack eng angepaßt; der aber war einfach und in den einzelnen Gegenden einheitlich. Deshalb drückten die Unterhaltungen in Form und Inhalt ein allgemeines Empfinden aus. In ihnen lag ein Stück Volkspsyche. Doch als die Macht der Städte zerbröckelte, da verfiel mit ihr das große soziale Fühlen, und die gemeinsame Art der Erholung hörte auf. Theater und Geselligkeit wurden nur noch in privaten Cercles gepflegt. Die Folgezeit bildete das Einzelindividuum immer mehr aus, und als die Stadt als ein großer Gemeinschaftskörper erst


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in der neuesten Zeit wieder erstand, da war das Individuum zu kompliziert geworden, um noch alle Lebensgebiete mit den Mitbürgern gemeinsam zu haben. Erholung und Geselligkeit bauen sich nicht mehr auf größeren Gemeinschaften von Menschen auf, die in der Gesamtheit ihrer Lebenseinstellung übereinstimmen. Auch heute sind die Unterhaltungen Massenbelustigungen; aber die einzelnen Teilnehmer sind sich ihrer Ganzheit nach fremd, und nur mit einem äußersten Zipfel ihres Wesens kleben sie aneinander und suchen etwas Gemeinsames. Dahin wirkt auch der Umstand, daß die Familiengeselligkeit mehr und mehr abkommt, weil infolge der wirtschaftlichen Entwicklung auch die jüngeren Elemente schon pekuniär selbständig sind und ihre eignen Wege gehen. So spielt sich denn das Leben immer mehr in der Öffentlichkeit ab, und verschiedene Stätten der Erlebnismöglichkeiten stehen nebeneinander und vereinigen die heterogensten Elemente in ihrem Publikum. Da sind Theater und Kunsthallen, da sind Konzert  und Caféhäuser, da sind Klubs und Lesehallen, da ist endlich der Kino, diese modernste Massenunterhaltung.

Nun hat jedes Zeitalter den Mitteln, mit denen es den Unterhaltungstrieb befriedigte, sein charakteristisches Gepräge aufgedrückt, und so ist auch der Kino ein Produkt, das außerhalb der gegenwärtigen Epoche kaum denkbar ist. Und doch ist nicht nur das Bedürfnis alt, dem er entspricht; auch die Stoffe, die er bringt, sind nicht so neu und traditionslos, wie es auf den ersten Blick scheinen möchte. Sieht man sie einmal genauer auf ihren Inhalt an, so finden sich viele Merkmale, die in die Vergangenheit deuten, und die nur in dieser neuen Form wieder auferstehen.

Eine Dosis Sensation und Aufregung fehlte nie im Alltagsleben, und in früheren Zeiten sorgten dafür die Spuk  und Geistergeschichten, die heute noch in dieser Form auf dem Lande leben. Und als ein Strahl der Aufklärung diese Gestalten verblassen ließ, da fand man in der Beschäftigung mit den lieben Nächsten, in den Gesprächen über Kriegs  und Kriegsgeschrei genügend aufregenden Stoff für die Unterhaltung am Biertisch und beim Kaffeeklatsch. Und die Köpfe der 14jährigen sind heute, ebenso wie früher, erfüllt von Indianer  und Detektiv , Räuber  und Kriegsgeschichten.

[Randbemerkung: Jahrmarktsunternehmung] Vor 50 Jahren (und heute noch) umlagerten die Jungens die Jahrmarktsbuden, in denen die mit grellen Farben bemalten Indianer unter wildem Gebrüll auftraten, oder sie erregten ihre Phantasie an den Schauerdarstellungen eines wandernden Panorama, in dem das Erd-


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beben von Lissabon oder eine Schiffskatastrophe auf hoher See (der Name wurde nach dem jeweils aktuellsten Ereignis umgeändert) gezeigt wurden. Die Hauptsache war, daß unzählige Menschen auf möglichst grauenvolle Weise zu Tode kamen.

Nur waren diese Gelegenheiten selten, und im übrigen sorgten die kleinen und großen Bändchen der Indianer und Nic Carter Literatur für die nötige Abwechslung. Diese beiden Arten der Unterhaltung sind nicht mehr zeitgemäß. Sie haben sich überlebt. Der Kino hat sie nicht verdrängt; aber er steht an ihrer Stelle, und doch dokumentiert er durch seine Stoffe die Unwandelbarkeit des jugendlichen Geschmacks. Er nahm genau da seinen Anfang, wo lebende Kaninchen verzehrende Indianer und Schlangenbändiger, Panorama und Wachsfigurenkabinett ihre Triumphe gefeiert hatten, auf der Messe. Nach und nach verschwanden diese, und inmitten des Festplatzes glänzte das Kinematographentheater mit seinen 1000 elektrischen Lampen. Ein direkter Rückgang der Jahrmarktsunternehmungen ist nicht zu konstatieren.1 Aber genügt nicht die Tatsache, daß sie seit Jahrzehnten stagnieren und mit der Verbreitung von Kinos, Caféhäusern und Kabaretts keineswegs Schritt gehalten haben, um sie als einer überwundenen Zeit angehörend zu betrachten?2

Wie früher um die Jahrmarktsbuden, so drängen sich heute die Buben und Mädel um die Kinoplakate, nur daß es ihnen heute soviel leichter geworden ist, in die abenteuerliche Welt hineinzugelangen.

[Randbemerkung: Kolportageliteratur] Was noch von Rudimenten dieser Art aus einer früheren Epoche vorhanden war, das mußte weichen, weil der Kino sich besser als andere den besonderen Bedürfnissen der Gegenwart anpaßte. In einer Zeit, in der so intensiv gelebt wird, in der jeder Augenblick sein eigenes Erlebnis haben muß und alles wie in einem Strudel mitwirbelt, da ist kein geeigneter Boden mehr für Indianergeschichten und Hintertreppenromane. Um die Phantasie auf den Wegen des Helden mitreisen zu lassen, gehört ein ungestörter, stiller Winkel, eine enge Stube, in die der Lärm der Wirklichkeit nicht hineindringt. Das Nähmädchen, das einen Grafen liebte, oder die schaurigen Geheimnisse eines Schlosses interessieren heute noch genau so wie früher. Nur hat man keine Muße mehr, die 100 Lieferungen so eines Romanes abzuwarten, bis bei der 99. die Spannung nun endlich gelöst wird. In einer Kino- 


1Genaue Aufzeichnungen darüber gibt es nicht.

2Diese Behauptung auf Grund persönlichen Befragens an maßgebenden Stellen.


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vorstellung kann man für wenige Groschen in kurzer Zeit dieselben Sensationen durchleben. Und nicht nur diese dem Kinodrama verwandten Stoffe, sondern die Volksbücher überhaupt werden weniger gelesen. Die beteiligten Kreise schieben die Schuld wohl dem Kino in die Schuhe; aber wer will da Ursache und Wirkung sondern! Ist nicht beides vielmehr das Resultat einer neuen Konstellation überhaupt, eine Erscheinung durch die andre bedingt und doch nicht veranlaßt Diese allgemeine Bewegung vermögen auch die im einzelnen erzielten Erfolge, die sich infolge der Verfilmung eines bekannten Romanes, wie etwa "Quo vadis“ von Sienkiewicz oder "Der Eid des Stephan Huller" von Felix Holländer, für den Buchhandel ergeben, nicht aufzuhalten. 1

Der wirklich wertvollen Lektüre wird der Kreis von Lesern, der ein Buch nicht nur nach dem Grad der Spannung einschätzt, wohl nach wie vor treu bleiben; alle andern aber bröckeln ab und gehen mit der Mode, soweit nicht auch der Lesestoff unter moderner Flagge segelt und sich der Forderung: "viel und abwechslungsreich" für wenig Geld anpaßt; das ist der Fall bei der Institution der Lesezirkel und in den zahlreichen illustrierten Wochenschriften.

[Randbemerkung: Kino und Theater] Viel stärker ist das Theater durch die neuentstandene Konkurrenz der Lichtspiele in Mitleidenschaft gezogen worden, und war nicht nur da, wo es mit dem Kino rivalisiert, um das Publikum auf leichte und angenehme Weise zu unterhalten, wie z. B. durch Aufführung von Operetten; sondern auch auf den Gebieten, wo ernste Kunst gepflegt wird, macht sich die Macht des neuen Gegners empfindlich fühlbar. Es wäre falsch, wollte man den Kino als den Erben des Theaters ansprechen. Er hätte dieses Erbe wahrlich schlecht verwaltet; aber er hat doch alle die Massen an sich gezogen, die von jeher nur ins Theater gingen, um sich einen Abend gut unterhalten zu lassen, und die dabei so viel oder so wenig profitierten wie von einer rührenden Filmgeschichte. Der Kunst mag die Abkehr dieses Publikums nicht schaden.2 Die einzelnen Theaterunternehmungen werden aber durch diesen Ausfall vor eine Existenzfrage gestellt.

Für die aus öffentlichen Mitteln unterstützten Unternehmungen ist dieser Ausfall weniger schlimm; sie liegen auch meist in Großstädten, und da finden sich immer noch genügend Enthusiasten zusammen,


1Rundfrage im Börsenblatt der deutschen Buchhändler, wo diejenigen, die aus Erfahrung urteilen, diesen Standpunkt vertreten.

2Indirekt auch der Kunst selbst; denn infolge der verminderten Einnahmen muß nach und nach das Niveau der einzelnen Aufführungen herabgedrückt werden.


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um die Plätze zu füllen. Schlimmer ergeht es aber den kleineren Provinzbühnen, für die der Teil des Publikums, der heute durch den Kino abgelenkt wird, ein unentbehrlicher Faktor ist.

Das Jahr 1908 ist der Wendepunkt, von wo ab sich der Rückgang zuerst bemerkbar macht. Seitdem müssen die Theaterdirektoren zusehen, wie von Jahr zu Jahr ihre Häuser mehr veröden, und wie die Abtrünnigen in Scharen zu den Lichtspieltheatern strömen. Ihre Agitation richtet sich deshalb in erster Linie gegen diesen Gegner. Und doch gilt hier, was vorne schon von der Kolportageliteratur gesagt wurde. Der Kino hätte nicht zu seiner Machtstellung aufrücken können, wenn das Theater und die moderne Theaterliteratur alle Ansprüche befriedigt hätte. Darüber ist im ersten Kapitel schon gesprochen worden. Die dort aufgestellten Behauptungen1 werden erhärtet, wenn man im einzelnen untersucht, an welcher Art von Theaterstücken sich der Ausfall hauptsächlich bemerkbar macht.2

Trotz der herabgesetzten Eintrittspreise, die die der Mittelplätze im Kino nicht übersteigen, nimmt die durchschnittliche Besucherzahl bei klassischen Schauspielen und Lustspielen von Jahr zu Jahr ab. Die Mehrzahl empfindet heute anders und steht den Klassikern fremd gegenüber. Die Frequenz der teueren Plätze vollends ist bei diesen Aufführungen auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Das niedrige Eintrittsgeld bei Volksvorstellungen hat höchstens bewirkt, daß der Besuch, wenn die Gesamtfrequenz betrachtet wird,3 weniger schnell nachläßt als in den teueren, besonders in den mittleren Preislagen. Klassische und andere ältere Lustspiele wiesen sogar eine kleine Steigerung auf.

Daß Volks-  und Ausstattungsstücke, wie z. B. der Pfarrer von Kirchfeld oder die Jüdin von Toledo, von Jahr zu Jahr (besonders seit 1908) sinkenden Besuch aufweisen, erscheint kaum erstaunlich. Wahrhafte Volksstücke, in denen das Empfinden des gesamten Volkes zum Ausdruck kommt, sind es für die heutige Zeit doch nicht mehr, und in der Ausstattung übertrifft ein einigermaßen guter Film die meisten Provinzbühnen.

Moderne Dramen, die diese Stelle für die Jetztzeit einnehmen, gibt


1 Daß das Theater, die moderne Theaterliteratur nicht mehr aus dem Volke heraus sich aufbaue, sondern nur mehr einer dünnen kulturellen Oberschicht entspreche.

2 Nach Untersuchungen über den Besuch bei den einzelnen Stücken in den Spielzeiten 1906/7 -1908/9, 1910/11- 1912/13 an dem einzigen Theater einer westdeutschen Industriestadt, in der es besonders viele Lichtspieltheater gibt.

3Volksvorstellungen und gewöhnliche Vorstellungen zusammengerechnet.


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es nur vereinzelt, und was heute als solches angesprochen werden muß, entspricht immer nur bestimmten Schichten. Abgesehen von dem großen Erfolg, den "Alt Heidelberg" und "Glaube und Heimat" in den letzten Jahren erzielt haben, ist auch das Interesse für diese Art in stetem Abnehmen begriffen. Vollends dem modernen Einakter, Satiren und Schwänken steht das Gros der Bevölkerung absolut fremd gegenüber. Ihr Empfinden ist zu robust und zu wenig kompliziert, um da mitzukönnen. 1 Mit Ausnahme also einzelner weniger moderner Dramen und älterer Lustspiele vermag das Theater die Massen nicht mehr zu fesseln. Es fehlt das starke Mittel, das beide zusammenhielt. Jeder geht seine eigenen Wege, das Theater bestimmt nicht mehr in dem Maße wie früher die kulturelle Entwicklung, und andrerseits wirken auch keine Kräfte, die aus dem Volk heraus entstanden wären, befruchtend auf die dramatische Kunst zurück.

Wo vollends das Theater seine Kulturaufgabe ganz vergessen hat und deshalb auch für jene Oberschicht nicht mehr die Stätte von künstlerischem Erlebnis ist, da hat es sich vollends nicht behaupten können. Echte Volksstücke gibt es nicht; wo aber einzelne Unternehmer versucht haben, durch leichte Unterhaltung das Publikum zu gewinnen, da haben sie noch schneller Schiffbruch gelitten. Dies ist heute die eigentliche Domäne des Kino, und alle anderen Gegner auf diesem Gebiete hat er siegreich mehr und mehr zurückgedrängt. Das zeigt sich deutlich, wenn man die Entwicklung des Theaterwesens und der übrigen Vergnügungen in Berlin im Verlauf der letzten Jahre betrachtet.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts waren Theater, Varieté und Kabarettunternehmungen in der Hauptstadt in steter Zunahme begriffen. Bis 1908 bildeten sie die Brennpunkte der öffentlichen Unterhaltung und Zerstreuung und erreichten damals mit 34 Theatern und 34 Varietés und Kabaretts ihren Höhepunkt. Dann aber entstand ihnen in den Lichtspieltheatern ein mächtiger Gegner, der bald einen viel größeren Einfluß erlangte, als sie je besessen hatten. Von den 34 Varietés und Kabaretts existieren heute nur noch zwei Drittel. Hie und da geschah es, daß ein Kinematographentheater in dieselben Räume einzog, in denen die alten Unternehmungen sich nicht mehr hatten halten können. So war es z. B. im Haverlandtheater, im


1Charakteristisch ist auch der außerordentlich große Rückgang im durchschnittlichen Besuch der in der Weihnachtszeit aufgeführten Märchen für Kinder, der auf 2/3 gesunken ist.


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Passage- und Intimen Theater. Die größeren Bühnen, die ausschließlich die ernste Kunst pflegten, wurden weniger gefährdet. Soweit sie allerdings hauptsächlich Dramen und Zugstücke im Geschmack des Vorstadtpublikums brachten, existieren sie heute kaum noch. Im ganzen ist aber ihre Zahl im Laufe der letzten fünf Jahre nur um zwei gesunken; doch klagen die übrigen über schlechte Geschäfte.

Nur in einer Form entspricht das Theater den gegenwärtigen Bedürfnissen, und zwar da, wo die Musik das Bindeglied ist: im Opernhaus. In den Provinztheatern macht sich zwar auch da auf den billigeren Plätzen ein Rückgang im Besuch bemerkbar, wenn ältere Opern im pompösen Geschmack Meyerbeerscher Musik oder romantische Opern, wie Mignon, Zar und Zimmermann, sowie Mozartsche Stücke zur Aufführung kommen. Selbst Operetten, moderne sowohl als ältere, entsprechen dem Geschmack der unteren Schichten nicht mehr so wie vor einigen Jahren.1 Dagegen scheint eine Art von Musik dem gegenwärtigen Geschmack zu entsprechen, und das sind Wagnersche Opern. Überhaupt scheinen die modernen Komponisten mehr aus dem Volke heraus zu empfinden als die Literaten.2

Sehr häufig fand sich ja den Fragebogen nach in einzelnen Personen die Vorliebe für Oper und Kino vereint, besonders war das der Fall bei den Frauen. Diese Erscheinung ist aber außerordentlich charakteristisch für die Gegenwart überhaupt. Einmal ist an Stelle der intellektuellen Perzeption eine mehr von dem Gefühl bestimmte Anpassung getreten; die Wirkungen gehen ausschließlich durch die Sinne und nicht durch den Geist, und das ist für musikalisches Empfinden die günstigste Vorbedingung, und zum andern bietet die ungenauere Ausdrucksweise der Oper und der Filmdramen eher die Möglichkeit, an alle die verschiedenen Gefühle zu appellieren, die in den Zuschauern jeweils am stärksten sind. Sie lassen mehr mögliche Deutungen zu, und in einem Zeitalter, in dem die einzelnen Kulturelemente so diffus sind und von einem einheitlichen Fühlen, von gemeinsamen großen Ideenströmungen, die alle Welt zugleich ergreifen, gar keine Rede sein kann, sind derartig verwaschene Begriffe, wie Oper und Kinodrama, vielleicht die einzig möglichen Mittelpunkte, um die sich die Massen scharen können.


1Das liegt auch vielleicht an der Qualität des in den letzten Jahren Hervorgebrachten.

2Die Frequenz der Plätze zum Preise von über 1M blieb ziemlich gleichmäßig, die der billigen hat zugenommen.