„ Bewegliche Photographien.


Bewunderungswürdig erscheint die Ausdauer, mit welcher das eleganteste Pariser Publikum jetzt alltäglich und allabendlich auf offener Straße, auf dem Boulevard des Capucins, vor einer unscheinbaren Lokalität „Queue“ bildet und stundenlang ausharrt, bis es, in Gruppen von 150 Personen, gegen Erlag von einem Francs Einlaß findet. Jede halbe Stunde findet, so schreibt man dem „Kl. J.“, unten - es ist nämlich eine Kellerlokalität - eine neue Schaustellung statt. Es ist das eine hochinteressante Merkwürdigkeit, die dort gezeigt wird, so daß es gar nicht Wunder nehmen kann, vornehme alte Herren mit Ordensbändern nebst Damen der höchsten Gesellschaft mit im Gedränge zu sehen. Die Beweglichkeit der Photographie wird veranschaulicht, eine noch ziemlich neue Erfindung . Wenigstens wurde wurde sie bisher nur in Amerika öffentlich gezeigt. Vor allem ist man angenehm überrascht, in dem Keller ein reizendes Theaterchen zu finden, welches genau 150 Personen faßt, auf ebensovielen „Orchesterfauteuils“.

Die Bühne ist nichts als ein an die Wand genageltes weißes Blatt. Das Bild wird darauf über die Köpfe der Zuschauer weg aus einem rückwärts befindlichen Verschlag projizirt. Alle Welt kennt das Wunder der Camera obscura, die heutigen Tages auch schon auf gewöhnlichen Jahrmärkten aufgestellt zu werden pflegt. In der Camera obscura sieht man auf dem weißen Tische das ganze Getriebe der Umgebung, mit Menschen und allem Vieh, getreulich mit der ganzen Bewegung abgebildet. Hier erscheint auf der Platte zunächst eine todte Photographie. Sowie aber im Verschlag die offenbar nach dem Edison´schen „Kinetoskop“ eingerichtete Rotationsmaschine in Bewegung gesetzt wird, erhält die Photographie mit allem darauf Befindlichen Leben, und zwar bleibt alles alles trotzdem in der grauen Farbe der Photographie. Das ist eben das Merkwürdigste.

Bei der Camera obscura hat das Bild seine natürlichen Farben, aber man sieht eben auch nur dasjenige, was sich in der Umgebung der Camera abspielt. Hier hingegen werden mit einzelnen Photographien Vorstellungen gegeben. Man sieht z. B. ein Fabrikthor; grau und todt. Plötzlich kommen in ganzen Schwärmen die Arbeiterinnen heraus und Wagen und Bicyclisten fahren auf der Straße vorüber. Ein Radfahrer, Anfänger, führt seine Maschine an der Hand und will eben aufsteigen, schwankt und sucht es mehrmals vergebens, endlich - ca y est ! Er fährt davon.

Zweites Bild: Eine Familie, Monsieur, Madame et Bèbè, sitzen im Garten ihrer Villa beim ersten Frühstück. Der glückliche Papa löffelt dem Kleinen die Milch ein und ist recht ungeschickt dabei, die Mama lacht herzlich darüber. Nun wieder ein Massentableaux mit kleinen Figuren. Todte Photographie einer Eisenbahnstation. Viele Personen stehen auf dem Perron herum. Rrrr! Der Apparat hinten beginnt zu spielen, die Photographie wird lebendig. Die auf dem Perron sich befindlichen Menschen weichen zurück, denn der „Chef de gare“ erscheint mit seinem „Retirez vous, retirez vous !“ Der Zug fährt ein; Alles in grauer Photographiefarbe, aber lebend, lebend ! Großes Getriebe nun, die Coupeethüren öffnen sich, Reisende steigen aus und ein, die Abschiednehmenden tauschen Küsse.

Ein Bild ist großartiger als alle anderen. Eine Gruppe Kartenspieler im Cafè wird gezeigt, denen der Kellner Bier aufträgt, das sie sich einschänken und trinken. Einer der Herren zündet seine Cigarette an; der Rauch ist photographirt, wie er aufqualmt und fortschwebt. Noch folgen Straßenbilder mit Omnibussen und sonstigem Verkehr; eine Schmiedewerkstätte mit noch größerem Raucheffekt. Zum Schluß das Meer: Ansicht eines Seebades; ein Tremplin ragt in´s Wasser hinaus; gewöhnliche Photographie. Plötzlich beginnt das Meer Wellen zu werfen, lustige Badende laufen über´s Sprungbrett und springen in die kühlende Fluth. Das Publikum ist außer sich vor Entzücken.“

Der Komet, 7.3.1896

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