Volker Baer

Von den Schwierigkeiten regionaler Filmforschung*

Oldenburg - wenn man in eine fremde Stadt reist, greift der Neugierige nach Handbüchern. Und da findet er in Kunstreiseführern, in Architekturnachschlagewerken wie in Handbüchern über historische Stätten reichlich Auskunft. Man erfährt, wann die Lamberti -Kirche gebaut, das Schloß errichtet, das Museum, das sich auf die Sammlung Tischbeins stützt, eröffnet und das Theater eingeweiht wurde. Selbst über die Gräber bekannter Gestalten gibt ein Lexikon Auskunft. So findet man beispielsweise die Notiz, daß in Oldenburg die letzte Ruhestätte von August Hinrich liegt. Und ein Literaturführer berichtet, daß in Oldenburg Karl Jaspers geboren wurde, daß Friedrich Leopold zu Stollberg Oldenburg eine Stadt nannte, "wo man für den Geist keine Nahrung findet bei den Männern und nicht für das Herz bei den Frauen". Und Andersen, der Autor vieler Märchen, notierte bei einem Besuch 1845 in Oldenburg: "hier ist viel Intelligenz, und das Theater ist eines der besten". Und aus unseren Tagen - und hier sind wir fast schon beim Film - ist zu erfahren, daß Hugo Hartung von 1936 bis 1940 in Oldenburg gelebt hat.

Was aber ist über den Film in Oldenburg zu erfahren? So gut wie nichts. Und das gilt nicht nur für diese Stadt: Es gibt kein den anderen Lexika vergleichbares Nachschlagewerk, das Auskunft gibt über lokale Filmereignisse. Es gibt zudem auch keine nation ale Filmographie. Der Lamprecht müßte längst schon ergänzt werden, der Bauer war für das Jahr 1950 beachtlich, heute ist er weithin überholt. Der von Klaus steckt noch in den Anfängen, zudem ist der Autor verstorben, sein nach Jahren gegliedertes Buch soll jedoch fortgeführt werden. Das Jahrbuch von Pflaum erlebte nur ein gutes Dezennium, und das Jahrbuch "Prisma" der DDR erreichte auch nur rund 20 Ausgaben. Was es allenfalls gibt, sind regionale Branchenverzeichnisse, und die sind zum Teil blamabel. W as fehlt, ist nicht zuletzt ein Handbuch, das über die Orte des Films Auskunft gibt.

Das Interesse an Historie ist jedoch weithin gering und scheint zudem mehr und mehr noch nachzulassen. Das Interesse an filmgeschichtlichen Aufzeichnungen ist noch weit geringer, was nicht zuletzt daran liegen mag, daß vielen der Film noch immer als unseriös gelten mag, daß die historische und theoretische Auseinandersetzung mit ihm noch immer als überflüssig angesehen wird. Als Beispiel für ein fehlendes historisches Verständnis mögen allein schon die Schwierigkeiten genügen, die es 1963 bei der Gründung der Deutschen Kinemathek in Berlin zu überwinden galt. Politiker zeigen sich kaum interessiert an Filmgeschichte, Filmwirtschaftler noch weit weniger.

Als es galt, 1980 eine Dokumentation über den Deutschen Filmpreis zu publizieren, stellte es sich heraus, daß aus der Frühzeit dieser Auszeichnung kaum mehr Unterlagen vorhanden waren. Nicht viel anders sah es 1983 bei einem Rückblick auf die Tätigkeit des Kuratoriums junger deutscher Film aus. Bei den Berliner Filmfestspielen war, durch wessen Schuld auch immer, wertvolles historisches Material - vermutlich bei einem Umzug - verloren gegangen oder bei anderer Gelegenheit leichtfertig außer Haus gegeben w orden. Als es galt, den Berliner Gloria-Palast vor den Baulöwen zu retten, mußte man erstaunt feststellen, daß es über dieses traditionsreiche Kino kein historisches Material bei den Eigentümern oder Pächtern gab. Aber selbst die, die sich von der jungen Generation dem Film verpflichtet fühlen, haben kein Empfinden für das Vergangene: so waren kürzlich eine Gruppe von Studenten, die sich für Filmkritik interessierten und an der Berliner Sommerakademie teilnahmen, die Namen von Kritikern der Nachkriegsjahre, von Gunter Groll, Karl Korn und Hans Helmut Kirst, unbekannt.

Vor diesem wenig trostvollen Hintergrund heben sich einzelne Publikationen ganz besonders ab, etwa ein Bild der Filmstadt München oder ein Porträt des Filmlebens im Bezirk Berlin-Neukölln. Hinzu kommen noch manche Einzeluntersuchungen über regionale Filmgeschichte oder über bestimmte Kinos. Daß diese Arbeiten nicht ohne Wirkung bleiben, mag das Beispiel des Bandes über Berlin-Neukölln beweisen: Hier wurde auf Robert Baberske und die Schauspielerin Maria Forescu aufmerksam gemacht. Wenig später griff "CineGraph" diese Anregung auf und stellte beide ausführlich mit Porträts in seiner Losenblattsammlung vor - regionale Filmarbeit kam auf diese Weise einem großen Kreis von Lesern und Nutzern zugute.

Doch in der Filmforschung, der regionalen zumal, sind noch viele Hindernisse zu überwinden. Denn noch immer gilt Film weithin als Wirtschaftsgut, das zum schnellen Verbrauch bestimmt ist. Was heute benötigt wird, ist morgen schon wieder vergessen, was für Kopien und Produktionsunterlagen, für Programme und Fotos beispielsweise gelten kann. Und so fühlt sich keiner - so ganz im Gegensatz zur Wahrung von Kunst und Literatur in Museen und Bibliotheken - zuständig für die Konservierung des Kulturgutes Film, weder die Politiker, noch die Wirtschaftler. Politiker lieben den Glanz. So wurde beispielsweise in einer Sitzung des Beirats des Zahlenlottos in Berlin ein Antrag, der den Film betraf, genehmigt, ein anderer hingegen abgelehnt: Felix, der Europäische Filmpreis, bekam sogleich seine Lottomittel in Millionenhöhe, die Initiatoren der Fassbinder-Ausstellung in Berlin mußten mehrmals sich um Lottomittel bemühen, ehe sie den Zuschlag bekamen. Die Wertschätzung von Film und Filmgeschichte zeigt sich auch - bei Verlagen, Buchhandlungen, Kritikern und Lesern - im Umgang mit der Filmliteratur. Auch vor diesem Hintergrund muß man die Schwierigkeiten sehen, die einer Beschäftigung mit der Filmforschung im Wege stehen.

Diese Schwierigkeiten dokumentieren sich aber auch darin, daß Material nur an einigen wenigen Stellen gesammelt, gepflegt und ausgewertet wird. Ansonsten wird, zumal auf lokaler Ebene, das Material weithin vernachlässigt, kaum archiviert. Und das bei den großen Verlusten, die der Krieg den etwaigen Beständen weithin zugefügt hat (noch immer liegen beispielsweise Teile des ehemaligen Reichsfilmarchivs in Rußland). Und - auch ein nicht zu unterschätzender Aspekt jeglicher Forschung - die Zahl der Zeitzeugen, die es zu befragen gilt, wird immer geringer.

Wenn aber schon die Archivierung der Filmhistorie solche Schwierigkeiten bereitet, wozu dann auch noch eine regionale Filmforschung? Sie darf nicht Nische sein, mit der sich die Provinz, mehr und minder geltungssüchtig, zufrieden gibt. Sie muß vielmehr eine Lücke füllen neben der überregionalen Filmforschung, die der Geschichte als Ganzes anvertraut ist. Die Formen und Themen des Films, die geistige Entwicklung des Mediums werden in den großen Kinematheken untersucht und analysiert, in denen auch die Mono- und Biographien sowie Filmographien erarbeitet werden. Regionale Filmforschung spielt sich gleichsam auf einer zweiten Ebene ab, sie ist unerläßlich als Zulieferer, als Stoff und Materiallieferant für die Zentren der Forschung.

Es kann nicht als Schwierigkeit angesehen werden, daß die regionale Filmforschung ihre Funktion, ihre Aufgabe, aber auch ihre Grenzen erkennt (und beachtet). Sie muß sich den Einzelheiten widmen, muß Ergänzungen bieten, muß Spezifisches erkennbar machen. Schwerpunkte, Akzente sind zu setzen, weshalb nun nicht jede Kommune eigene Forschung betreiben, von jedem Kino die Geschichte aufgezeichnet werden muß. Wichtig ist regionale Filmforschung, weil hier die Gefahr droht, daß ohne diese Arbeit ein - nicht unerheblicher - Teil der Filmgeschichte verloren geht.

Noch ist nichts auf diesem Gebiet definiert. Regionale Filmforschung muß sich also als erstes über ihre Ziele klar werden, was durchaus auch eine Schwierigkeit bedeuten mag. Was will man erkunden? Welche Ansatzpunkte hat die Forschung? Welche Methoden gilt es zu entwickeln? Welche Nachbardisziplinen sind in die Arbeit miteinzubeziehen (etwa Architektur, Geschichte und Kunstgeschichte)? Und nicht zuletzt: Wer, welche Wissenschaftler sollen hier Forschung betreiben? Nicht jeder, der sich für einen Forscher hält, mag auch geeignet sein, das Wesentliche zu erkennen, das Wichtige zu bewahren und die richtigen Schlüsse aus dem Material zu ziehen.

Nicht minder wichtig ist es - auch dies vielleicht eine Schwierigkeit im Umgang mit regionaler Filmforschung -, den Umfang der Arbeit zu klären. Was gilt es also zu beachten? Zu erforschen ist der Ort der Herstellung im weitesten Sinne, angefangen vom Au tor über Atelier und Kopieranstalt bis hin zu Synchronisation und Vertrieb, zu erforschen ist auch der Ort als Spielplatz der Handlung (im märkischen Sand wurden ägyptische Dörfer gebaut, in holsteinischer Stille fontanesche Atmosphäre vorgegaukelt, was ma nchem Film nicht gut bekam). Wichtiger noch ist die Untersuchung des Ortes als Abspielplatz, die Funktion des Kinos (was an Bedeutung gewinnt im Angesicht der Aufgabe vieler Lichtspielhäuser und des Verfalls vieler Kinos in der ehemaligen DDR), und nicht unwesentlich ist letztlich auch die Betrachtung der Rezeption bei Publikum und Kritik. Gab es da - und dies ist der Sinn der Untersuchung - Unterschiede regionaler Art? Wie wirkten sich die NS-Zeit, wie die Einteilung in Besatzungszonen nach 1945, wie die SED-Herrschaft in der DDR im regionalen Bereich aus? Hier kann auch, im begrenzten Raum, Kulturpolitik sichtbar gemacht werden (wovon die Reaktionen auf Achternbuschs "Gespenster" ein Zeugnis ablegen können).

Es geht, wie man sieht, um die Definition der Aufgabe und Möglichkeiten regionaler Filmforschung: Schwierig wird es vermutlich auch sein, sich über die Methoden der Arbeit einig zu werden. Soll man, wie die einen fordern, auch die Geburtsorte der Filmscha ffenden in die Arbeit miteinbeziehen? Oder soll allein der Ort des Wirkens Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen? Was es in jedem Fall zu beachten gilt, ist auch das allgemeine Klima, das eine Stätte bestimmt. Womit nun soll man die Forschung betreiben? Auch hier zeichnet sich wieder eine Schwierigkeit ab, denn nicht immer und überall wird es genügend Material und hinreichende Erfahrungen im Umgang mit historischem Material geben. Tageszeitungen und Zeitschriften, Funk und Fernsehen, Dokumente der Politik , der Polizei, der Architektur in Baubehörden gilt es zu sondieren. Nachlässe müssen gefunden und gesichtet werden. Berichte aus Ateliers und Vertriebsbüros, aus Kinos sind auszuwerten. Institutionen, die sich mit Film- und Kulturpolitik befassen, müssen in die Arbeit miteinbezogen werden. Akademien als Stätten der Ausbildung und Universitäten als Orte von Forschung und Lehre werden als Helfer nicht unwillkommen sein. Für all diese Arbeit gilt es Ansatzpunkte zu finden, Methoden der Forschung zu formulieren.

Es gilt vieles, was verloren zu gehen droht, sicherzustellen - das betrifft nicht zuletzt die Fragen der Verfolgung im NS-Regime und das Schicksal der Emigranten (die Stiftung Deutsche Kinemathek in Berlin leistet hier bereits Vorbildliches). Es gilt auch vieles aus den frühen Nachkriegsjahren vor dem Vergessenwerden zu bewahren, etwa die über das ganze zerstörte Land hin zerstreute Filmindustrie mit Notateliers in Göttingen, Wiesbaden oder Baden-Baden. Aber dies Suchen nach Vergangenheit ist permanent mit Schwierigkeiten verbunden. Bei dieser Arbeit ist ein Zusammengehen aller, seien es nun Einzelgänger, Privatinitiativen, lokale Gruppierungen oder Institutionen, von dringlicher Notwendigkeit. Eitelkeit ist da nicht angebracht, regionale Eifersüchteleien ebenso wenig.

Eine der wohl am schwersten zu überwindenden Schwierigkeiten wird die Finanzierung regionaler Filmforschung darstellen. Der einzelne kann auf Dauer alle Arbeit nicht alleine leisten. Die Kommunen und Regionen werden auf die allgemeine Knappheit der Mittel verweisen. Und die großen Kinematheken können von ihren ohnehin schon schmal bemessenen öffentlichen Mitteln nichts abgeben.

Dabei sind sie auch auf die Ergebnisse regionaler Arbeit mit angewiesen, deren Aufgabe es ohne Zweifel ist, Steine zum allgemeinen Mosaik der Filmgeschichte zu liefern. Das ästhetische Moment der Filmgeschichtsschreibung ist den Kinematheken zugeordnet; den Film als lokales Zeitdokument zu erforschen, ist Aufgabe regionaler Tätigkeit. Unter wirtschaftlichen, sozialen, politischen, technischen, architektonischen, selbstverständlich auch künstlerischen Aspekten Erkundigungen einzuziehen, ist die Funktion regionaler Arbeit. Erst aus allen Ergebnissen ergibt sich ein Gesamtspektrum, zeichnet sich ein Bild der Kultur des Films und damit, im günstigsten Falle, auch eins der Kultur der Politik ab. Die Schwierigkeiten auf diesem Wege sind durchaus überwindbar. Voraussetzung freilich ist, daß auch die regionale Arbeit Öffentlichkeit gewinnt, daß sie also nicht nur untereinander Verbindung hält, sondern - und dies bedeutet schon wieder eine der vielen Schwierigkeiten - daß sie auch die Ergebnisse ihrer Forschung publiziert. Erst das macht sie für die Allgemeinheit - und damit auch für etwaige Geldgeber - interessant.


*Protokoll nach einem Referat in der Arbeitsgruppe Nr. 1 vom 17.08.1992, das der Autor für das Buch überarbeitet und ergänzt hat.


aus:

Steffen, Joachim/ Thiele, Jens/ Poch, Bernd (Hg.):
"SPURENSUCHE. Film und Kino in der Region. Dokumentation der 1. Expertentagung zu Fragen regionaler Filmforschung und Kinokultur in Oldenburg"; Oldenburg 1993, S. 49-53.

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