Hans-E. Happel
Kino in der Vorstadt Zwei "Lichtspieltheater in Wulsdorf Die 50er Jahre waren in der Bundesrepublik das Jahrzehnt des großen Kino-Booms. In Bremerhaven gab es 1950 acht Kinos (mit 4221 Plätzen), am Ende der 50er Jahre waren es sechzehn (mit 9678 Plätzen, die höchste jemals in Bremerhaven angebotene Anzahl an Kino-Plätzen). Kinos als öffentlicher Treffpunkt, als Höhle der Ablenkung, der rührenden, grausamen, komischen und fremden Geschichten, Kino als Ort für die erste Berührung im Schutz der Dunkelheit, breitete sich nicht nur in den Zentren aus, die „Lichtspieltheater" zogen bis in die Vorstädte. 1957, auf dem Höhepunkt der Kino-Leidenschaft, zählte Bremerhaven 2,7 Millionen Besucher. Schon 1960 war die Zahl auf 1,8 Millionen gefallen, damit hatte sie fast den Stand von 1950 (1,6 Millionen) erreicht.1
Der Ort der kleinen Fluchten konnte auch am Stadtrand jene unaufdringlich-spröde Eleganz zeigen, die mit den geschwungenen Formen der 50er Jahre und etwas Hollywood-Glanz ein neues Lebensgefühl versprach. Allein in Wulsdorf gab es zwei Filmtheater. Im Herbst 1948 öffneten die renovierten „Wulsdorfer Lichtspiele" in der Weserstraße 29 im Saal hinter dem Haus der Gastwirte Ohlandt, Hamann, Misch. Die Gartenstühle waren gegen kinogemäße Sitzreihen ausgetauscht worden, „originalgebeiztes Sperrholzgestühl", schreibt Hermann Freudenberger in der Nordsee-Zeitung. „24 Reihen zu je 15 Plätzen und 55 gepolsterte Logensessel."2 Im Dezember kam Grethe Weiser zu einem dreitätigen Gastspiel, machte Wulsdorf zum Stadtgespräch und animierte Freudenberger zu einer Glosse: „Grethe Weisers Auftritt hat Wulsdorf immerhin bis zum Speckenbütteler Wasserturm bekannt gemacht, denn die Leher, die Geestemünder und die Leherheider Weiser-Freunde mußten notgedrungen mit der Drei nach Wulsdorf wallfahren."3
Das zweite, größere und schönere Wulsdorfer Kino hieß „Kamera". Es öffnete 1951 im ehemaligen Volksgarten, ein Tanzsaal, in dem schon vorher, aber wenig erfolgreich, unter dem Namen „Kurbel" Kino gemacht wurde. Die neuen Besitzer, Erich und Edith Richter, waren 1945 aus Berlin gekommen. Dort hatten sie vier Kinos besessen, darunter die „Passage-Lichtspiele" unter den Linden - eins der ersten Tonfilm-Kinos -, und den „Metro-Palast" in der Friedrichstraße mit 1200 Plätzen. „Das Kino", erzählt Edith Richter, „hat uns Frau Göring weggenommen. Sie wollte da ein Kulissenhaus für das Theater aufbauen."4 Richters werden mit zwei anderen Kinos entschädigt. „Die 30er Jahre waren für uns sehr gut, weil das Kino gut ging." Den trügerischen Glanz der Nazi-Aufmärsche unter den Linden erleben sie vom Fenster aus mit. „Der Fuder hat uns um die schönsten Jahre gebracht", sagt Frau Richter. Zwei Kinos wurden ausgebombt, die anderen beiden „sind vom Russen übernommen worden."
Nach dem Krieg zieht Erich Richter vom neuen Wohnsitz Loxstedt aus mit einem Wanderkino über die Dörfer. Die Gasthofsäle waren „gerammelt voll", wenn Marika Rökk in alten UFA-Filmen tanzte.
Am ersten Weihnachtstag 1951 öffnet die „Kamera" und bringt den Charme der Kino-Metropole in die Weserstraße 56. 450 Plätze, ein säulengestützter Rang auf drei Seiten, schwere Vorhänge, eine Bar, eine neonbeleuchtete Eingangspassage. „Sie werden überrascht sein. Guter Sitz, guter Ton, guter Film", hieß es in der Eröffnungsanzeige. Premierenfilm: „Altes Herz wird wieder jung", Emil Jannings (1943) als 70-jähriger Junggeselle in seiner letzten Rolle, daneben in der Früh- und Spätvorstellung „Tarzans Rache". Heimatfilme, Filme aus den 30er Jahren, amerikanische Filme, James Dean sogar in Erstaufführung, das ist das „Kamera"-Programm. Ein Premierenfoto zeigt den Saal vollbesetzt. Männer und Frauen in Mänteln und Festtagskleidung, Männer mit Schlips und Kragen, Frauen mit Hut, alte und junge Gesichter. 10 Jahre fand die „Kamera" ihr Publikum. 1961 schloß das Kino fast unbemerkt seine Pforten. Der letzte Film „An heiligen Wassern" wurde zum letztenmal am Dienstag, den 6. Juni, gezeigt. „Dieser gute Film gefällt sehr. Wir spielen bis Donnerstag" hieß es in der Tageszeitung. Das große Kino-Sterben hatte begonnen. Im Mai 1963 schlössen auch die „Wulsdorfer Lichtspiele". Ein Versuch, das Kino 1964 unter neuem Namen wiederzubeleben, schlug fehl. Nach wenigen Monaten mußten die „Weser Lichtspiele" - obwohl sie sich an Großproduktionen wie „Lawrence von Arabien" heranwagten - das Licht endgültig ausdrehen. Wulsdorf lag wieder am Rand der Welt, und Hermann Freudenbergers Behauptung, „es gibt keine weltoffeneren Stuben als die Kinos", gehörte der Vergangenheit an. 1 NZ v. 6. 12. 1961 „Das Wirtschaftswunder zeigte Starallüren" 4 Das Gespräch mit Edith Richter ist 1988 geführt worden Seite erstellt von Bernd Poch, Medienforum Oldenburg
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