Hans-E. Happel
Vorwort

Als 13jähriger ist er zum ersten Mal ins „Tivoli" gegangen. Ein Bremerhavener, der namentlich nicht genannt sein will, denn seine Geschichte sei doch nichts Besonderes. Damals, sagt er, 1949, sei es das schönste Kino der Stadt gewesen. Fast ein halbes Jahrhundert später spricht er von dem prächtigen Raum mit den Mahagoni-Türen, den Seitenrängen, der großen Bühne und der blauen Kuppel mit einer Bewunderung, die er in einem Wort zusammenfaßt: Das „Tivoli" sei ein Weltstadt-Kino gewesen. Auch die europäischen Opernhäuser, die er später besucht hat, wischen diesen Eindruck nicht weg. „Wir waren ausgehungert als Kinder, unsere Stadt lag in Trümmern. Wir hatten unser Zuhause, dort gab es nur das Radio, wir hatten die Schule und unsere Gegend, wo wir spielten und tobten." Dann öffneten die ersten Kinos, Vorstadt-Kinos mit Gartenstühlen, das Turnhallen-Kino „Titania", wo gelegentlich der Regenschirm aufgespannt werden mußte, das „Central", wo ein Eimer Schweinefutter für die Tiere im Hinterhof-Stall die Eintrittskarte ersetzen konnte. Dann sieht er ein neues, nobles Kino, die Schauburg, Wände und Decke ganz in rot gehalten. Dann treibt ihn die Neugier ins „Tivoli". Sonntag nachmittags in die Kindervorstellung. Wer noch nicht 14 ist, bezahlt fünfzig Pfennig für die Karte. Er verläuft sich, rennt in den großen Tanzsaal, das „Tivoli-Tanz-cafe" mit seinen fast tausend Plätzen, bis er begreift, daß das Kino im Stockwerk darüber liegt. „Dann kam man in die Filmwelt, und man ließ alles abfallen, was draußen war." Sein erster Film im „Tivoli" hieß „Fregola". Es ist Marika Rökks erster Nach-kriegsfilm. Ihm fallen sofort Zeilen aus den Liedern ein, die sie singt: „Mama sagt, du darfst nicht küssen / Mama sagt, das tut man nicht / Mama muß es schließlich wissen / weil sie aus Erfahrung spricht." Immer, wenn er von den Eltern 50 Pfennig kriegen kann, geht er am Wochenende ins Kino und staunt über die vielen Menschen. Nach Marika Rökk sieht er Rita Hayworth und Marilyn Monroe. „Wir waren damals Träumer", sagt er. „Wir haben um uns rum alles vergessen, manchmal, wenn der Vorhang zuging, blieb man noch sitzen, bis man vertrieben wurde". Als er 16 ist, nimmt er seine erste Freundin mit, und als sie wenig später nach New York auswandert, traf es ihn so tief ins Herz, daß er das Kino ein halbes Jahr nicht mehr besuchen kann. Heute sei das alles nur noch Legende, sagt er. „Unsere Tivoli-Zeit ist gelaufen, und die Schauspieler von damals leben nicht mehr". Aber die Erinnerung des 13jährigen ist so stark, daß ein Stichwort reichte, um sie aufzuschließen. Kino. Was das für ein Kind bedeutet, hat Jean-Luc Godard, der witzigste Intellektuelle unter den französischen Regisseuren, in seiner Dankrede aus Anlaß der Verleihung des Theodor-W.-Adorno-Preises der Stadt Frankfurt am Main, im Oktober 1995 mit einfachen Worten gesagt: „Wenn das Licht über der weißen Leinwand langsam verlosch, lebten wir auf. Wir entdeckten das Recht zu lernen, ohne die Schulbank zu drücken. Ein Gefühl grenzenloser Freiheit. Ein Mann, eine Frau, ein Automobil, und schon reisten wir durch Italien .. .Wenn wir auch keine Filme machen konnten, wir wußten, wir könnten es tun."

100 Jahre Kino sind Anlaß, um zurückzublicken und zu fragen, welche Rolle Kino in einer jungen Stadt wie Bremerhaven gespielt hat. Das neue Medium ist von Anfang an auf großes Interesse gestoßen. Schon die Vorstellungen in den frühen Kinematographen-Theatern liefen vor vollen Rängen. In den 20er und 30er Jahren entstanden neben den „Flohkinos" repräsentative Prachtbauten. In den 50er Jahren erreichte der Kino-Boom - wie überall in Deutschland - seinen Höhepunkt. Damals wurden in Bremerhaven jährlich mehr als zwei Millionen Besucher gezählt. Heute sind die Zahlen so enttäuschend, daß der einzige Bremerhavener Kino-Betreiber, die Union-Kinobetriebsgesellschaft, Hamburg, sie vornehm verschweigt. Oder gehört Understatement in den 90ern ebenso zum Geschäft, wie in den 50ern der permanente Klageruf aller Kinobesitzer, sie bezahlten zu hohe Vergnügungssteuern? Die Renaissance der Kino-Kultur in Form prächtiger Cinemax-Komplexe geht an Bremerhaven - bisher - vorbei. Cineasten müssen häufig lange und häufig vergeblich auf Filme warten, die anderswo und in der überregionalen Presse viel diskutiert werden, aber nicht zum Mainstream-Menü gehören. Das kleine Kommunale Kino-Projekt (Koki) konnte sich - seit der Gründung 1984 -technisch und finanziell keine großen Sprünge leisten. Daß es jetzt vom Kommunikationszentrum Roter Sand in ein richtiges Kino umgezogen ist und künftig mit dem Hamburger Kinobetreiber zusammenarbeitet - zur Zeit bundesweit ein einmaliges Modell -, ist für Filmfans ein Lichtblick. Aber mit diesem Buch wird kein Blick in die Zukunft geworfen. Es will festhalten, was längst zur Legende geworden ist. Dazu gehören nicht nur Namen und Daten, dazu gehören die Erinnerungen derjenigen, die mit dem Kino aufgewachsen sind, als Besucher, Programmgestalter oder Vorführer, sei es in den 30er, den 50er, 60er oder 70er Jahren. Die beteiligten Autoren versuchen, verschiedene Aspekte der Bremerhavener Kino-Geschichte) zu beleuchten, sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die kleine Kinogeschichte einer Stadt „On the Waterfront" ist ein Mosaik mit vielen Lücken. Daß die Stadt „hart am Wasser" gelegentlich zur Kulisse für Film und Fernsehspiel geworden ist, wird nur am Rand gestreift: Die Ausgrabung eines in Bremerhaven gedrehten Harry Piel-Films war der Sommerhöhepunkt des Kino-Gedenk-Jahrs 1995. Der Herausgeber dankt der Stadt Bremerhaven, die die Finanzierung dieses Buches ermöglicht hat. Er dankt vor allem den vielen bereitwilligen Unterstützern, die -insbesondere nach einem Aufruf in der Nordsee-Zeitung - mit ihren Erinnerungen, Geschichten, Anekdoten, mit Fotos, mit jahre- oder jahrzehntelang gesammelten Programmheften, Zeitungs-Artikeln und Kino-Anzeigen weitergeholfen haben. Besonderer Dank gilt Ingeborg Albers, Joachim Fuß, Ilse Marseiile, Helmut Meenzen, Edith Richter, Rainer Scheel, Bernd Vogel, Angelika Warias, Paul Weber, Karl-Heinz Wendland sowie Daniela Deckwart und Uwe Jürgensen vom Stadtarchiv Bremerhaven.

Hans Happel

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