EGON HEROLD:

AUS DER GESCHICHTE DES LICHTSPIELHAUSES SCHRAMBERG oder:

VON DER SCHAUBÜHNE ZUR TÖNENDEN LEINWAND (Schramberg 1991)


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Vorwort

Auf einer Wanderung durch die Fünftälerstadt Schramberg begegnen wir manch schönem Zeugnis der Baugeschichte; aus alten Zeiten blieb vieles erhalten zu einer Reihe verschiedener Baustile, da jede Epoche, seien ruhige oder bewegte Zeiten gewesen, von Armut oder Wohlstand geprägt, ihre Spuren hinterlassen hat.

In dieser Schrift nun geht es um ein Bauwerk der Moderne. Das Lichtspielhaus Schramberg, ein Muster neusachlicher Baukunst, dessen Erhaltung zweifellos im öffentlichen Interesse steht, bildet das Hauptthema unserer Betrachtungen. Um dahin zu gelangen, müssen wir jedoch vorweg einige theater- und filmgeschichtliche Akzente setzen, bei denen nun aber nicht von bühnentechnischen Einrichtungen, von Vorläufern des Films wie Guckkästen, laterna magikas, Stroboskopen, Wundertrommeln usw. die Rede sein soll, und auch nicht von perforierten Zelluloidstreifen: einzig vom beweglichen Figurenspiel auf Schaubühne und Leinwand her soll das Thema angegangen werden.

Um Besonderheiten der Schauspielkunst geht es gleich zu Anfang, und wir beginnen ganz oben, bei der Diva. Wir lassen uns überraschen: Lichtspiel, das ist Spiel mit dem Licht, doch es ist auch Spiel mit den Schatten. Mit dieser Erkenntnis treten wir ein in die traumhafte Wirklichkeit von Bühne und Leinwand.


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Theatralisches

Man nannte sie die Göttliche. Ihre faszinierende Erscheinung verlieh den Gestalten, die sie verkörperte, menschliche Größe und Leidenschaftlichkeit. Manche behaupten, ihr Gesicht sei das beste, das jemals auf einer Kinoleinwand zu sehen war. Souverän spielte sie als Königin Christine, verschlagen als Mata Hari, charmant und leidenschaftlich als Kameliendame. Vielleicht war die letztgenannte Rolle ihre schönste, gewann das Schauspiel von Alexandre Dumas dem Jüngeren erst durch ihre Darstellung den vollendeten Ausdruck.

Schon früher einmal hat das Schicksal der Marguerite Gautier das Publikum zu Tränen gerührt. Eine nicht minder bedeutende Mimin brachte noch vor der Jahrhundertwende das Mädchen mit den Kamelien mehr als fünfzig Mal auf die Bretter, und ein Riesenpublikum lag ihr zu Füßen. Über die mimische Gestaltungskraft dieser Künstlerin schrieb ein Zeitgenosse: "...ist es doch ebenso schwer, ja unmöglich, ihre künstlerische Physiognomie festzuhalten, wie es vergeblich wäre, den Rauch, das Licht, die Flamme, die Funken einer vom Wind gepeitschten Fackel photographieren zu wollen."

Zwischen beiden Darstellungen, der der Greta Garbo und jener der Eleonora Duse, liegen nicht einmal vierzig Jahre, aber in dieser Spanne Zeit nahm nicht nur die Weltgeschichte, sondern auch die Geschichte der Schauspielkunst einen viel rasanteren Verlauf als früher. Das Menschenbild, nach dem ersten Weltkrieg seiner Insignien weitgehend entledigt, stand zu neuem Ausdruck bereit, wie auch auf kulturellem und politischem Gebiet umwälzende Entwicklungen im Gange waren. Technisierung und Rationalisierung machten sich breit, und so setzte sich, was Schauspielkunst betraf, mehr und mehr der


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Leinwandfilm durch. Noch immer suchte man nach geeigneten Lokalen für die Vorführungen und fand sie auch. Man gab ihnen die Bezeichnung "Kinematograph" und nannte sie später einfach “Kino", im Großstadtjargon "Kientopp". Nun aber warben beide, das herkömmliche Theater sowie das Kino, um die Gunst des Publikums, und beiden wurde sie gewährt. Ein ursächliches Bedürfnis der Menschen, Spiele zu sehen, verbunden mit dem Wunsche nach Weiterbildung, garantierte beiden den Erfolg. Dem Film vor allem kam der uralte Menschheitstraum helfend entgegen, Bilder lebendig werden zu lassen. Schon die vorgeschichtlichen Höhlenbewohner mögen sich danach gesehnt haben, daß Wandzeichnungen, welche Menschen und Tiere darstellten, ebenso lebendig würden wie ihre natürlichen Vorbilder. Vielleicht ergab sich beim darüberzuckenden Blitzstrahl die Illusion einer kleinen Bewegung oder beim Darübergleiten des menschlichen Auges. War letzteres der Fall, so ist der Vorgang beim Film ein genau umgekehrter: hier blickt das Auge starr auf den vorbeigleitenden Bildstreifen. Und die Illusion, die eine fließende Bewegung ermöglicht, ist bedingt durch die Trägheit menschlicher Wahrnehmung. Doch erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde diese Kunst erfunden, und auf dem Wege dahin findet man allerlei Versuche beweglicher Bildfertigung.

Das Schattentheater zum Beispiel. Aus dem Orient gelangte es über die Türkei nach Italien, wurde noch im 17. Jahrhundert in ganz Europa bekannt. Besonders oft wurde es auf Märkten aufgeführt. Um 1791 unterhielt Goethe in Tiefurt ein Schattentheater; auch Franz von Pocci befaßte sich mit dem Spiel der beweglichen Schatten. Zu äußersten Perfektion aber brachte es in unserem Jahrhundert Lotte Reiniger, die ihre Scenen am Tricktisch herstellte, um sie im Film verwenden zu können. Hier nun verwischen sich die Grenzen: das Schattenspiel war zum Film geworden, der Film, in gewissem Sinn, zum Schattenspiel.

Bis in unser Jahrhundert herein, besonders aber im 19., übten sich die Leute im häuslichen Kreis des Schatten-, aber auch des Papiertheaterspiels, und es wurden Bilderbögen hergestellt zur Selbstanfertigung von Figuren und Proscenien. In Neuruppin zum Beispiel, in Epinal, London, Wien und sonstwo standen die Fabriken,


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in denen all die vielen Bilderbögen gedruckt wurden, deren Inhalt vom Märchenspiel bis zum gehobenen Bühnenstück reicht. Da war der "Freischütz", waren "Die Zauberflöte" und "Wilhelm Tell" vertreten, und die einzelnen Firmen übertrafen sich in der Schönheit von Kulissen und Figurinen. Für wenig Geld, auch den ärmeren Schichten noch erschwinglich, waren die Ausschneidebogen im Kaufmannsladen erhältlich. Kinder mußten ausschneiden, oft auch an malen, und dann konnte das Spiel schon beginnen. Doch nicht nur Kinder, auch Erwachsene hatten ihre Freude daran. Es darf nicht vergessen werden, daß so mancher Theaterdichter, so mancher Regisseur ein Papiertheater besaß, um Dekorationen und Figurenspiele damit vorzubereiten.

Desgleichen aber war der Theaterbesuch in großen und in kleinen Städten nicht nur mehr ein Privileg gehobener Gesellschaftsschichten. Die Aufklärung hatte das ihrige getan, auch dem sog. kleinen Mann den Weg zu höherer Bildung freizumachen. Im Wien des Biedermeier und des Vormärz zum Beispiel huldigte ein vielschichtiges Publikum den erhabenen Dramen Grillparzers wie auch den Possenspielen von Raimund und Nestroy. Das Repertoire der Theater, auch der Wandertheater, umfaßte klassische und romantische Stücke, und manch kleines Theater, das brotsuchend durch die Lande zog, muß nicht unbedingt eine "Schmiere" gewesen sein.

Bei der Erfindung der Kinematographie jedoch muß es den Theaterleuten, insbesondere den Theaterbesitzern oft mulmig geworden sein; man schrieb das Jahr 1895, und eine vergleichbare Entwicklung stand noch in Aller Erinnerung: die der Photographie. Sie war nach 1840 rasch in Mode gekommen, und die Bildnismaler, auch die Silhouetteure, nahmen großen Schaden. Hatte die Zunft der Miniaturmaler in Paris mehrere hundert Mitglieder registriert, so ging nun ihre schöne Kunst dahin und wurde nicht mehr gefragt. Auch Kriehuber, der mit seinen Bildnislithographien in Wien äußerst gefragt gewesen war, sah nun seinen Stern sinken und starb schließlich als armer Mann. Wie, so fragte man sich gegen Ende des 19.Jahrhunderts und auch später noch, wird es dem Theaterspiel ergehen? - Schatten- und Papiertheater wurden belächelt und auch beim großen Theater fehlte es an Publikum: die Leute


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strömten ins Kino, dessen Lokalitäten ständig vergrößert und vermehrt werden mußten, um dem Massenandrang Rechnung zu tragen.

Schon beim Aufkommen des Films machten sich kluge Köpfe Gedanken darüber, ob und welchen Kriterien nach man diesen in die Reihe der Schönen Künste zuordnen könne. Es wurden mannigfache Diskussionen geführt, die den Kunstwert der zehnten Muse, wie der Film alsbald genannt wurde, beinhalteten. Besonders Theaterfachleute sprachen, aus naheliegenden Gründen, einen solchen dem Film ab. Von all den vielen Argumenten und Gegenargumenten hier nur ein paar wenige: Schon was die Herstellung von Filmscenen betraf, verwarf man dem Film seinen Kunstwert! Hier könne sich, entgegen dem Theater, ein Handlungsablauf nie dynamisch entwickeln. Und in der Tat: Beim Drehen eines Filmes muß die Scene oftmals unterbrochen, bis zum Steinerweichen wiederholt werden, um nachher aus der Vielzahl der Aufnahmen die gelungenste heraussuchen zu können. Kann man, so die Kritik, bei solch einem Verfahren noch von Kunst reden? Man kann! Vergleicht man die Herstellungsmethode eines solchen Films beispielsweise mit der einer anerkannten Kunstgattung, der Malerei nämlich, so fällt auf, daß ein Gemälde oft das Resultat vieler Skizzen und Vorstudien sein kann, und wer zählt all die Abänderungen, die Übermalungen, die sich eine Malerleinwand gefallen läßt, bis endlich das Bild fertig ist. Freilich mag dieser Vergleich ein wenig hinken. Aber da sind noch eine Reihe anderer Argumente, durch die der Film heruntergemacht werden sollte. Eines von ihnen ergibt sich aus der Resonanz beim Publikum: Während nämlich bei Theateraufführungen nach jedem Akt, besonders aber nach dem letzten, lebhaft applaudiert wird, herrscht am Ende eines jeden Filmes düsteres Schweigen, und die Menschen gehen stumm und diskussionslos nach Hause. Auch ist dem Schauspieler, anders als beim Theater, jeglicher Applaus versagt. Lediglich aus den Besucherzahlen kann er erkennen, ob sein Stück ankommt oder nicht. Doch auch ohne Beifall bestand seitens des Publikums oft ein tiefgreifendes, kritisches Urteil, und man sollte die soziologische, ja psychologische Bedeutung des Films für die damalige Zeit keineswegs unterschätzen: Dem Zuschauer taten sich durch das Lichtspiel ganz neue Tore auf, die aus der Enge und Eintönigkeit das Alltags hinauswiesen.


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Doch die Widersacher des Kinobetriebes - und deren gab es zu Anfang eine ganze Menge - hatten noch ein weiteres ganz ursächliches Thema bereit: Das Auge der Kamera. Das Objektiv, an sich ein lebloser Gegenstand, läßt das Bildgeschehen durch die Kamera gleiten, das danach zunächst auf dem Filmstreifen konserviert wird, von wo aus es nach beliebig langer Zeit wieder abgespielt werden kann, wodurch beim Zuschauer stets die gleichen Emotionen ausgelöst werden. All dies aber sei, so die Kritik, nicht Wirklichkeit, sei Täuschung, Illusion. - Doch hier stoßen wir nun an die Grenze des noch Erklärbaren: Was ist Illusion? Sind nicht so viele Dinge, kleine oder große, die den Alltag schmecken, die wir benötigen oder zu benötigen glauben, auch schon Illusion? Das fängt doch wohl schon an bei der Wandtapete. All diese Dinge sind letztlich dazu da, uns manchmal die rauhe Wirklichkeit, ja die eigene Unzulänglichkeit vergessen zu lassen und unser Dasein um Einiges angenehmer zu gestalten. So läßt uns denn auch der Film, ja das Theater überhaupt, der Wirklichkeit mit all ihren Bürden entfliehen in die Traumwelt der Schauspielkunst.

Solch ein Erlebnis brauchte der Mensch ab und zu, und wenn auch nach einem Film die Zuschauer schweigsam den Heimweg antraten, so sollte dies nicht bedeuten, daß sie sich über die Filmhandlung keinerlei Gedanken machten: An den Folgetagen nämlich waren vielerorts Gespräche im Gange, ja angeregte Diskussionen, und nicht wenige Leute waren in der Lage, die Handlung eines Filmes von A bis Z aus dem Stegreif nachzuerzählen. Und Vielen hatte der Film so gut gefallen, daß sie sich gezwungen sahen, diesen gleich zwei- oder gar dreimal anzuschauen. - Die Aufnahmetechnik mittels dem Auge der Kamera aber brachte ungeahnte Möglichkeiten mit sich, zum Beispiel Großaufnahme, Zeitlupe, Zeitraffung, Mikroaufnahme und mehr, und dies ergab oft eine bis zum Gigantischen hinreichende Intensität. Ohne das Kino aber, und diese Tatsache bleibt unbestritten, wären die vielen bedeutenden, hervorragenden Schauspielerinnen und Schauspieler in einer Kleinstadt niemals zu sehen gewesen. "Die Gegenwart", so schrieb Max Reinhardt, "hat eine verschwenderische Fülle starker Schauspieler auf den Sand geworfen. Noch stehen sie in wunderbarer Blüte..." Und gerade er, der dem Deutschen Theater in Berlin zu neuer Blüte verholfen hat, bildete für das Theater als solchem immer wieder Darsteller heran,


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die dann dem Film zugute kamen. Da sind Namen wie Agnes Straub, Hermann Thimig, Werner Krauß, Adele Sandrock, Eugen Klöpfer, Emil Jannings, um nur einige zu nennen, und auch Lil Dagover, die einstige Dame des deutschen Films, gehört dazu . Alle aber bildeten eine Schauspielergeneration, die, oft bis in das hohe Alter, den Film in verschiedensten Rollen bereicherten. Ein Leben lang auf der Bühne, auf der Leinwand erscheinen zu können, das bedeutet, alle Altersstufen darstellerisch zu durchlaufen, heißt mannigfaltige Schicksale nachvollziehen.

Nun kann von den allzuvielen der damals hergestellten Filmen freilich nicht jeder als Kunstwerk gelten. Lange schon sind die meisten von ihnen dem Strom des Vergessens gefolgt, nur wenige sind als Klassiker in die Filmgeschichte eingegangen. Trotz eines reichlichen, jede Woche zweimal wechselnden Filmangebots in den Kinos war in kleinen und großen Städten noch Gelegenheit zu Theaterbesuchen geboten. In Schramberg traf es meist den Bärensaal, über dessen Neuaufbau das Schwarzwälder Tagblatt am 29.8.28 berichtet, er sei "...im Laufe des vorigen Jahres neu erstellt und am 11.Dezember in Betrieb genommen" worden. "Bereits am 1. September - nächsten Samstag - findet die erste Feier nach kaum vierwöchiger Unterbrechung im neu ausgeschmückten Saale statt."

Die Bühne des Bärensaals war für Theateraufführungen bestens geeignet. Ein schmucker Bühnenrahmen, zwei hintereinander angeordnete Vorhänge, eine variable Beleuchtung, zum Teil eigene Kulissen, ausreichend Umkleideräume und sogar ein hauseigener Kulissenschieber und Beleuchtungstechniker waren vorhanden, und so konnte auf der geräumigen Bühne Ernstes und Heiteres zum Vortrag kommen. Einmal trafen sich auf diesen Brettern zwei Inselköniginnen, um sich "alle Spott und Schand´" zu sagen; ein Dänenprinz zog hier seinen Degen, weil es um Sein oder Nichtsein ging; ein Graf aus den Niederlanden verplauderte und verschlief hier die Nacht vor seiner Hinrichtung; ein italienischer Teufelsgeiger strich hier seine Saiten und gab zu, die Liebe nie schwer genommen zu haben; und später einmal skandierte ein ganz armer Poet im Interieur des Malerromantikers seine Verse. Schließlich wurde, turnusgemäß, das hochverehrte Publikum durch ein oberbayrisches Bauerntheater zu Lachstürmen veranlaßt oder zu Tränen


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gerührt. Zu Ersterem brachte es auch der Schwabe Willy Reichert, der neben heiteren Vorträgen auch sketchartige Volksstücke zum Besten gab. - Vergessen wir nicht die seltenen aber schönen Tanzvorträge, von Tanzlehrer Arthur Gebel geleitet, aber auch andere Darbietungen gehobener Tanzkunst, wie zum Beispiel die Ausdruckstänze des Hamburger Raimondoballetts. Vom Bühnentanz aus ist der Sprung nicht weit zur Pantomime; daran fehlte es besonders nicht während der Faschingszeit. Was dagegen die Parodie angeht, so ist hier der Auftritt Werner Krolls zu erwähnen, eines Künstlers, der in der Lage war, alle berühmten Schauspieler der damaligen Zeit sprachlich und gesanglich einwandfrei nachzuahmen. Aber auch dem Laienspiel stand die Bärenbühne oftmals zur Verfügung, und sie nahm die allererste Stelle ein unter den Bühnen der Fünftälerstadt, als da außer ihr waren: die Bühne des Adlersaals, die des Lammsaals, die des Marienheims, schließlich die Bühne des evangelischen Gemeindehauses, auf welch letzterer alljährlich in der Vorweihnachtszeit Mysterienspiele, Krippenspiele zur Aufführung gelangten. Besonders im Bärensaal kamen oft auswärtige Ensembles zum Zuge, so in den 3o-er Jahren die der Württembergischen Landesbühne und des Stadttheaters Konstanz.

Mit dem Aufkommen des Personen-Fernverkehrs, der Eisenbahn, dem Omnibusverkehr, war für diejenigen, die es sich leisten konnten, Gelegenheit zum Besuch größerer Theater in den Kunstmetropolen gegeben. So inserierte z.B. am 2.12.28 das Stadttheater Freiburg in der Tagespresse für Sonntag, den 27.Januar 1929, 14 Uhr:

"Tannhäuser

Große Oper von Richard Wagner Einzeichnungslisten für Sonderzugteilnehmer bei den bekannten Verkaufstellen. Listenschluß am 12. Dezember..."

Doch schon am 22.Dezember kam die Ernüchterung:

"Tannhäuser am So., 27.1.29. Wegen Nichterreichung der Teilnehmergarantie von 380 Personen könne "geplanter Personenzug nicht geführt werden". Doch dagegen "können fahrplanmäßige Züge mit Sonntagsrückfahrkarten benutzt werden. Eintrittskarten 1.l0 bis 3.60 bei Musikalienhandlung Würz".


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Einen glücklosen Versuch, in Schramberg eine Dramatische Vereinigung ins Leben zu rufen und ihr Dauer zu verleihen, machte im Januar 1928 Oskar Eisele. Er begründete sein Vorhaben mit den folgenden, plausiblen Worten: "Nichts ist so geeignet, volksbildend und volkserhebend zu wirken, wie das Theater. Zweck unserer Vereinigung ist: Volksbildung und Volkserhebung durch das Theater außerhalb jeder Partei und Konfessionspolitik. In weit höherem Maße darf das Theater ein volksbildender Faktor genannt werden als ein Vortrag. Ersteres ist konkret und bestrebt, die tiefsten Gedanken mit dementsprechend sinnlich wahrnehmbaren Handlungen zu erläutern. Theater ist Leben und deshalb Leben gebend und Leben gestaltend. Mancher fand im Theater die Lösung seiner Lebenskonflikte!" Und latinisierend fuhr er fort:  "Doch per aspera ad astra! Nur im Gebrause der Stürme werden gewaltig die Eichen ... Schade, daß dieser Idealist mit seiner Dramatischen Vereinigung nicht besser zum Zuge kam: Die Schauspielkunst als die gestalterisch tiefgreifendste aller Künste hätte mannigfache Zeitprobleme lösen können, sowohl für den Spieler wie auch für den Zuschauer. Und es darf nicht unerwähnt bleiben, daß sich auf der Sprechbühne jede Gefühls- und Gedankenregung aussagen läßt, was zu tieferem Verstehen unter den Menschen führen kann.

Wohl kann man die Wichtigkeit des Schauspiels für die Gesellschaft nicht deutlicher ausdrucken, wie es Oskar Eisele tat; es war ein Bedürfnis für gute Aufführungen zweifellos vorhanden. Aber nicht so sehr wollten die Leute selbst Theater spielen lernen: Abend für Abend strömten die Massen ins Kino, welches werktags eine, am Sonntag drei Vorstellungen anbot, sein Programm aber jede Woche mindestens zweimal wechselte. So war denn dem Verlangen, sich angenehm zu unterhalten, mehr als Genüge getan: Der Film war zu einem Massenmedium geworden.

Doch, aus welchen Beweggründen entstand dieser Andrang auf Kinokassen? Es wäre einfach, nur zu sagen, das Volk wolle Spiele sehen. Einer der Gründe mag die Langeweile sein, welche Schopenhauer als die unangenehme Strecke zwischen Abspannung und neuerlicher Anspannung anprangert. Und Blaise Pascal erläutert: "Nichts ist dem Menschen so unerträglich, wie in einer völligen Ruhe zu sein, ohne Leidenschaften, ohne Geschäft, ohne Zerstreuung. ohne