Schriftenreihe der Museen
des Bezirks Schwaben,
herausgegeben von Hans
Frei, Band 11.
© Museumsdirektion des Bezirkes
Schwaben, Gessertshausen 1995.
Zitate bitte mit genauer Quellenangabe
"Forschungsstelle Mediengeschichte
im internet, Universität Oldenburg" .Übernahme
von Grafiken nur nach vorheriger Absprache
Wir danken der Museumsdirektion des Bezirkes Schwaben für die freundliche Erlaubnis zur Veröffentlichung der Beiträge.
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Elisabeth Plößl
Aus Krumbachs frühen Kinotagen
In drei Abteilungen
1. Abteilung: "Obacht ! Halt !"
Eine kleine Notiz und eine mit "Obacht! Halt!" überschriebene Annonce im Krumbacher Boten machten am 29. August 1903 das Publikum darauf aufmerksam, daß der Salon-Elektro-Biograph zum Bartholomäusmarkt in Krumbach eingetroffen war, und daß die Apparaturen im Hof des Streit'schen Anwesens in der Augsburger Straße aufgestellt worden waren. "Obacht! Halt !": Erstmals bot sich den Krumbachern die Gelegenheit, in einem dunklen Raum auf einer leuchtenden Leinwand lebende Photographien zu betrachten. Erstmals bekamen sie mit dem Kinematographen eine lllusionsapparatur zu Gesicht, die wesentliche technische Errungenschaften des 19. Jahrhunderts in sich vereinigte - beispielsweise die inzwischen mechanisch reproduzierbare Photographie, Großillusionstechniken wie Panorama und Diorama, und das elektrische Licht, von dem die Bilder illusionistisch überhöht und belebt wurden.1
Die bewegten Bilder des Kinematographen fanden Eingang in eine Kleinstadt, die selbst eine Phase beschleunigten Wandels durchmachte.2 Innerhalb von wenigen Jahren, zwischen 1895 und 1902, war die Einwohnerzahl auch durch Eingemeindungen von rund 2000 auf rund 3200 angestiegen. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstanden zwei größere Betriebe; am deutlichsten verkörperte sich die moderne Industrie in der Weberei von Steiger & Deschler, die nun auch vermehrten Arbeitskräftebedarf anmeldete. An den Markt- und Schrannentagen zog Krumbach die Bevölkerung aus dem überwiegend agrarischen Umland an. Seit 1892 fuhr die Eisenbahn zwischen Krumbach und Günzburg und schloß die Stadt an die überregionalen Verkehrsverbindungen an. Die Eisenbahn ließ auf wirtschaftlichen Aufschwung hoffen, und sie ermöglichte eine erhöhte Mobilität. Die Reisenden konnten aber auch die Erfahrung einer bisher ungeahnten Geschwindigkeit machen, einer Geschwindigkeit, die die Wahrnehmung veränderte.3 So wie das Massenverkehrsmittel, sollte auch das neue Massenmedium nicht ohne Folgen für die Wahrnehmung bleiben.
Nach dem Auftakt 1903 stellten sich in jedem Jahr außer 1906 ambulante Unternehmer ein und bauten ihre Kinematographen in Zelten oder Buden in der Nähe von Gasthäusern oder auch in den Sälen von Wirtschaften auf (s. tab. Zusammenstellung für die Jahre 1903-1912, Anh. 1). Mehrmals gastierten die Gebrüder Lindner aus Nürnberg mit ihrem The Bioscope / Der Riesen-Welt-Kinematograph und D. Dölles Welt-Kinematograph. Grelle Plakate, Meldungen und Anzeigen im Krumbacher Boten animierten jeweils zum Besuch der Vorstellungen. Bei ihrer Anzeigenwerbung setzten die Unternehmer nicht zuletzt auf die Faszination der Technik. In sich überbietenden Superlativen priesen sie ihre Apparaturen als die neuesten der Gegenwart oder auch als einzig dastehende Konstruktionen an; schon der Salon-Elektro-Biograph war den Krumbachern als "unstreitig der beste Kinematograph der Welt" vorgestellt worden. Verbesserungen der Projektionstechnik gingen alsbald in die Werbung ein. So manche Zuschauer, denen angesichts der zitternden und flimmernden Bilder die Augen geschmerzt hatten4, mochten sich angesprochen fühlen, wenn ihnen etwa The new Amerikan Bioscope 1908 "außerordentlich scharf und ruhig" projizierte Bilder verhieß, oder wenn sich der Original-Welt-Biograph 1912 mit absolut flimmerfreien "Riesenprojektionen" empfahl. Eine Rolle in der Werbung spielte auch die Beleuchtung. Nicht nur die "Films" waren Lichtillusionen; das elektrische Licht ließ den Gegensatz zwischen Dunkelheit und strahlendem Glanz erleben und entrückte die Bude ins Märchenhafte. Wie im Jahr 1904 der Riesen-Welt-Kinematograph, verband auch D. Dölle 1911 Technik und Lichtregie zum wirkungsvollen Publikumsanreiz: "Eine wertvolle Lokomobile versorgt das Unternehmen mit Licht und Kraft, besonders abends wird die Anlage einen interessanten, feenhaften Anblick bieten"5.
Kostspielige, modernste Filmtechnik wie das "Farbbild" wurde selbstverständlich hervorgehoben, und nicht unerwähnt blieben auch Musikautomaten, von denen die Vorstellungen untermalt wurden. So pries D. Dölle 1912 "Mein feines Konzertorchestrion, ganze Opern spielend, ersetzt 20 Mann Musik."6
Ein Jahr vorher konnte sogar die Ankunft eines Kinematographen-Unternehmens in Krumbach zum werbeträchtigen Spektakel werden: "Ein hier noch nie gesehener Transport wurde gestern ausgeführt. Herr H. Lindner aus Nürnberg ist per Bahn mit seinem E I e k t r o -B i o s k o p hier angekommen, woselbst im Saale zum "bayer. Löwen" drei Tage Vorstellung gegeben werden. Die schweren Wagen wurden mittelst L a s t l o k o m o b i l e mit Leichtigkeit an ihren Bestimmungsort befördert."7
Den zweiten Schwerpunkt der Werbung bildete das Programm und damit die Macht der "Films", Sehnsüchte, Träume, Neugier, Schaulust und auch Wissensdurst zu wecken und zu bedienen. "Welt" war ein Schlüsselwort mit "Szenen und Episoden aus allen Ländern der Welt" brachte der Salon-Elektro-Biograph die Exotik fremder Länder nach Krumbach. Für 70, 50 oder 30 Pfennig, je nach Platz, konnte man nun Reisen in die Ferne unternehmen. Einen ähnlichen Signalcharakter besaß "Großstadt" bzw. "Großstadtprogramm". "Großstadt" verwies das Krumbacher Publikum auf Fortschritt, auf das Allerneueste, auf ein Dabeisein gleichsam am Puls der Zeit, verhieß ihm aber auch den Kitzel des Frivolen und die Reize der Ausschweifung und des Lasters. Die Übergänge zu den Separat-Vorstellungen nur für Erwachsene oder nur für Herren waren fließend. 1912 lockte der Original-Welt-Biograph am letzten Vorstellungstag mit einem "hoch dezenten" Programm sowie mit einer Extra-Vorstellung, die "Verführungen im Sumpfe der Großstadt" betitelt war.8
Auch unabhängig von den Inhalten ihrer "Films" nutzten die Unternehmer die Verblüffung, welche die lebende Photographie als realistische Abbildung eines Geschehens erregen mußte. Die Gebrüder Lindner warben 1904 zum Besuch ihres Riesen-Welt-Kinematographen mit "Darstellungen von Episoden und neuesten Ereignissen in naturgetreuen Bewegungen und Farben", das Programm, hieß es, "gibt hervorragende und auserwählte Aufnahmen von allen Nationen gefertigt, in natürlicher und lebendiger Weise sorgfältigst wieder."9
Das naturgetreue bewegte Abbild erfuhr für die Zuschauer eine weitere Steigerung, waren Geschwindigkeitsmaschinen wie das Automobil oder moderne Flugapparate Gegenstand einer Spielszene oder einer aktuellen Berichterstattung. Den Nervenkitzel einer Verfolgungsjagd, eines Verbrechens und zugleich die Attraktion eines längeren Films versprach D. Dölles Welt-Kinematograph 1907: "Fast zwanzig Minuten beansprucht die unausgesetzte Vorführung des Bildes ,Der Detektiv und der Kinderraub'. Die Zuschauer machen die ganze Aufregung einer abenteuerlichen Flucht mit".10
Die Vorstellungen vereinigten gewöhnlich 7 bis 20 kurze Streifen aus unterschiedlichen Filmgattungen. D. Dölle gab 1911 einen ausführlicheren Einblick in sein Programm, das er in Krumbach anbot:
"Die zur Darstellung gebrachten Nummern aus allen Gebieten des modernen Lebens und der Weltgeschichte sind interessant und künstlerisch arrangiert. Vor allem gilt dies von dem Riesenfilm von 430 Meter Länge, welcher die Geschichte Esthers zur Darstellung bringt und dessen Reproduktion nahzu eine halbe Stunde beansprucht. Er ist lebendig koloriert, die Kostüme und Darsteller mit archäologischer Treue und mit feinem Verständnis für das orientalische Milieu, in dem sich die Handlung abspielt, ausgewählt, die Volksscenen, Aufzüge, Gruppierungen, Möbel und selbst das Geschirr der Pferde und Kamele so originell und echt, daß der Zuschauer sich in das alte Susa versetzt fühlt, als Zeuge jener dramatischen Vorgänge. Das Pathe- Journal, die neueste Errungenschaft auf dem Gebiete der Kinematographie bringt in kurzen, rasch aufeinanderfolgenden Films, begleitet von erläuterndem Text, jeweils die wichtigsten Tagesneuigkeiten der letzten Woche in charakteristischer Auswahl zur Anschauung, Wettrennen, Eisenbahnunglück, Ueberschwemmungen, Denkmalsenthüllungen, Aviatik u. a. m. Wir erwähnen noch einen sehr interessanten Film mit der romantischen Darstellung der Entführung eines amerikanischen Mädchens durch einen Cowboy und deren Rettung durch einen edlen India-
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ner, Aufnahme in der wilden Landschaft des amerikanischen Felsengebirges und den Urwäldern des Wild- West. 11
Wessen Erwartungen und Bedürfnisse ein solches Programm ansprach, aus welchen sozialen Gruppen und Schichten sich das Krumbacher Kinematographen-Publikum zusammensetzte, wer die für schmale Börsen doch verhältnismäßig hohen Eintrittspreise bezahlen konnte und wollte, bleibt im dunkeln.
Die erste, von Wanderunternehmen geprägte Abteilung der Krumbacher Kinogeschichte endete am 4. Mai 1913, als im Saal des Bayerischen Löwen auf vielseitiges Verlangen hin die Zeppelinsfahrt aufgeführt wurde. Lebende Photographie und das von ihr Abgebildete trafen für einen Augenblick zusammen: am gleichen Tag nämlich überquerte der Zeppelin Sachsen auf seinem Flug von Friedrichshafen nach Augsburg die Kleinstadt Krumbach.12
2. Abteilung: Franz Wassermann und sein Welt-Kinematograph
"Der Unternehmer, Herr Franz Wassermann von Memmingen, der sowohl dort, als auch in Mindelheim seit Jahren zwei Kinos mit großem Erfolg leitet, hat sich entschlossen, im Saalbau zum "Bayerischen Löwen" dahier kinematographische Vorstellungen zu veranstalten."13
Selbstbewußt und etwas übertreibend, so stellte sich der Mann vor, der das erste stationäre Lichtspieltheater in Krumbach gründete und mit dieser Anzeige die Eröffnungsvorstellung seines Welt-Kinematographen am Sonntag, dem 13. Juli 1913, bekanntgab.
Franz Sales Wassermann, im Jahr 1873 in Fellheim geboren, war wie sein Vater Malermeister in Memmingen. Seinen erlernten Beruf behielt er auch nach seinem Einstieg in die Wachstumsbranche Kino bei. Zunächst zusammen mit Johann Welte betrieb er ab dem 1. Juli 1911 das Kino National in der Brauerei und Gastwirtschaft Bauerntanz in Memmingen.14 Zwei Jahre später befand sich Wassermann schon auf Expansionskurs. Er kaufte das seit 1910 existierende Kinounternehmen Central-Theater (Zentral) der aus Neuburg a. D. kommenden Kompagnons Joseph Mayr und Joseph Koch auf.15 Seine Motive erläuterte Wassermann in einem Schreiben vom 1. September 1913 dem Memminger Stadtmagistrat in aller Deutlichkeit. Er kündigte an, daß er das Zentral in der Gastwirtschaft Zur Ostendhalle weiterführen, sein eigenes Kino hingegen eingehen lassen wolle, "wenn der Stadtmagistrat mir die Garantie geben würde, daß dann hier eine zweite Konkurrenz nicht mehr zugelassen wird. Der Zweck meines Kaufes ging auch dahin, eine Konkurrenz auszuschalten, da zwei Kinounternehmen sich hier nicht rentieren."16
In Memmingen beherrschte Wassermann nun vorerst unangefochten die Kinematographen- Szene. Bereits an der Wende zum Jahr 1913 hatte sich der agile Unternehmer angeschickt, nach Krumbach auszugreifen. Was ihn dazu bewogen hatte, ist nicht überliefert. Jedenfalls konnte er sich dabei der Eisenbahn bedienen; seit 1910 nämlich verband die Lokalbahn die beiden Städte, und über Mindelheim gelangte man nun in etwa drei Stunden von Memmingen nach Krumbach.
Hier fand Wassermanns Vorhaben allerdings keine Gegenliebe. Der Krumbacher Stadtmagistrat suchte sogar nach gesetzlichen Handhaben, um das Kinematographen-Unternehmen zu verhindern.17 Am 15. Februar erhielt Wassermann dann aber doch die erwünschte Konzession, verbunden im März mit einer Reihe von Genehmigungsauflagen. Der Unternehmer selbst hatte am 1. März Pläne für den Umbau des Saales in der Gastwirtschaft zum Bayerischen Löwen vorgelegt und angegeben, daß er den Strom für den Licht- und Kraftbetrieb seines Kinos vom Krumbacher Elektrizitätswerk beziehen wolle. Mit dem Bayerischen Löwen hatte er in Krumbach-Hürben einen relativ zentral gelegenen Standort gefunden.
Vermutlich auch, weil er ein gehobenes bürgerliches Publikum ansprechen wollte, gab sich Wassermann seriös und ambitioniert, was sein Programm betraf. So hatte er bereits im Mai 1911, als er sich in Memmingen um die Kino- Konzession beworben hatte, geschrieben: "Das Programm der Vorführungen soll sich in der Hauptsache auf wissenschaftlicher Grundlage bewegen, den gewerblichen
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Fleiß und Fortschritt veranschaulichen und so belehrend und anregend auf die Besucher wirken."18
Im gleichen Sinn empfahl sich der Unternehmer der Krumbacher Öffentlichkeit: "Als Bildungsmittel steht das Kino unerreicht da", wobei aber auch "Unterhaltung und Frohsinn" nicht zu kurz kommen sollten.19
Als Auftakt im Welt-Kinematographen wählte er ein "Großes vaterländisches Gemälde", den "Film von Königin Luise in 3 Abteilungen." In der Eröffnungsvorstellung am 13. Juli erlebten Zuschauerinnen und Zuschauer die erste, am Sonntag darauf die zweite Abteilung Aus Preußens schwerer Zeit. Die Premiere wurde von dem Zither-Virtuosen Eschenlohr aus Mindelheim musikalisch untermalt. In den Genuß des dritten und letzten Teiles dieses Programmes, betitelt Die Königin der Schmerzen, gelangte das Publikum der Sonntagabendvorstellung am 27. Juli 1913 20 allerdings nicht mehr. Es floh in Panik aus dem Kinosaal, nachdem ein Filmstreifen im Vorführapparat Feuer gefangen hatte. (s. Polizeibericht dazu, Anh. 2)
Das Unglück brachte dem Unternehmer nicht nur einen Schaden ein, den der Polizeibericht auf 1800 Mark, eine Meldung im Krumbacher Boten hingegen auf 2500 Mark bezifferte, sondern auch eine Anzeige wegen fahrlässiger Brandstiftung.21
Erst am 23. November 1913 eröffnete der Welt-Kinematograph wieder und ging zugleich in die Wintersaison. In der Ankündigung sah sich Wassermann genötigt, um Vertrauen zu werben und offenbar bestehende Befürchtungen des Krumbacher Kinopublikums auszuräumen: "Um ängstliche Gemüter zu beruhigen, sei an dieser Stelle betont, daß der Saal vollständig feuersicher für den Besucher ist, da der Apparatenraum außerhalb des Saales angebracht worden ist. "22
Dieser Apparatenraum war allerdings auch das Einzige, was der Bezirksbaumeister Schnitzler, der im Auftrag des Bezirksamtes Krumbach die Sicherheitsverhältnisse überprüft hatte, zu Gunsten des Unternehmers anführen konnte. Es stellte sich nämlich heraus, daß Wassermann bisher noch nicht die Genehmigungsauflagen des Krumbacher Stadtmagistrats vom 13. März erfüllt hatte. Daher veranlaßte das Bezirksamt den Stadtmagistrat am 27. November, für die Durchführung der Genehmigungsbedingungen sowie weiterer Sicherheitsauflagen des Bezirksbaumeisters zu sorgen. Die Anwesenheit von zwei Feuerwehrleuten während der Vorstellungen hielt das Bezirksamt dabei nicht für nötig, dafür aber "ist vor jeder Vorstellung durch ein Polizeiorgan kontrollieren zu lassen, ob sämtliche Anordnungen befolgt wurden bezw. werden."23
Unter dem argwöhnischen Auge der lokalen Polizeibehörde fanden fortan die weiteren Aufführungen im Welt- Kinematographen bis zum 21. Juni 1914 statt. Dann brechen die Anzeigen, Meldungen und Notizen im Krumbacher Boten ab.24 Am 16. Juni noch hatte Wassermann, natürlich auch aus Werbegründen, im Blatt verbreiten lassen, daß die Vorstellungen im Sommer "sehr selten" sein würden. Ausschlaggebend für das eher abrupte Ende seines Krumbacher Kinounternehmens war dann wohl der Ausbruch des Ersten Weltkrieges; allem Anschein nach wurde Wassermann eingezogen.25
Die Frage, wie der Unternehmer drei Kinos an drei Orten unter einen Hut zu bringen vermochte, wie er jeweils vor Ort seine Betriebe organisierte, wieviel Leute er beschäftigte, kann aus dem vorliegenden Material nicht beantwortet werden. Es findet sich lediglich für Memmingen ein Hinweis vom 29. September 1913. Demnach beschäftigte Wassermann hier nur einen Vorführer. Er selbst machte den Türsteher und seine Ehefrau die Kassiererin.
Zum gut Teil war sein Betrieb wohl ein Familienunternehmen, schließlich konnte er sich auf eine vielköpfige Familie stützen.26 Der Polizeibericht über den Krumbacher Filmbrand am 27. Juli 1913 erwähnt einen Apparateur Metzeler aus Memmingen, vermutlich einen Angestellten, den Wassermann aber nur begrenzt außerhalb Memmingens einsetzen konnte, da sich zumindest in Krumbach und Memmingen die Vorführtage teilweise überschnitten. In Krumbach fanden die Kinematographenvorstellungen in erster Linie an Sonntagen, sehr viel weniger an Samstagen und selten an Feiertagen statt. An den Sonntagen gab es Kinder- und Schülervorstellungen in der Regel von 14 bis 16 Uhr, sowie Erwachsenenvorstellungen um 16 und
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um 20 Uhr. In seinem letzten halben Jahr in Krumbach dehnte der Unternehmer den Betrieb des Welt- Kinematographen zeitlich aus.27 Im Januar 1914 beabsichtigte er eine stärkere Erfassung des Publikums vom Land, das am Sonntag zum Einkaufen nach Krumbach zu kommen pflegte: "ln Rücksicht auf die Landbevölkerung wurden die Nachmittagsvorstellungen auf 3 Uhr verlegt. Somit ist es Jedermann möglich, das Theater zu besuchen." Einen Monat später kündigte Wassermann Aufführungen an jedem Sonntag an, und im Juni schließlich vernahm das Kinopublikum, daß die lebenden Bilder nunmehr in "ununterbrochene(n) Vorstellungen von nachm. 2 Uhr bis nachts 11 Uhr" über die Projektionsleinwand flimmern sollten.
Anläßlich der Wiedereröffnung des Welt- Kinematographen zur Wintersaison im November 1913 hatte Wassermann verheißen, daß er bestrebt sei, "dem Publikum stets das Neueste und Gediegenste in dieser Branche zu bieten."28
Diesen Anspruch löste er durchaus ein29 - falls ihm nicht Pannen dazwischen kamen. So bot er für den 6. und 7. Dezember 1913 den monumentalen italienischen Historienfilm Quo vadis? (Regie Enrico Guazzoni, 1913) an. Die Kopie traf allerdings beschädigt in Krumbach ein, was für Publikum und Kinodirektion gleichermaßen "sehr unangenehm" war. Mit dem noch monumentaleren Film Die letzten Tage von Pompeji ( Regie Mario Caserini, 1913) zeigte der Welt- Kinematograph am 17. April 1914 einen Welterfolg. Und mit Der Student von Prag (Regie Stellan Rye, 1913) brachte der Unternehmer am 26. Dezember 1913 den ersten künstlerisch bedeutenden deutschen Film nach Krumbach. Vielleicht reagierte das Publikum auf diesen unheimlichen, phantastischen Film, der mit virtuoser Technik die Erschaffung eines Doppelgängers zeigte, ähnlich wie es ein zeitgenössischer Filmkritiker beschrieb: "Menschen schrien im Parkett auf und wagten nicht, auf die Leinwand zu sehen, da sie dort zweimal leibhaftig dieselbe Gestalt sahen."30
Aber auch mit dem ersten deutschen Filmstar, der in ihren Rollen häufig vom Schicksal und den Männern gebeutelten Henny Porten, machte Wassermann das Krumbacher Kinopublikum bekannt.
Dieses mußte für den Genuß von Welterfolgen und Monumentalfilmen allerdings auch tiefer in die Tasche greifen; so kostete der Besuch des verunglückten Quo vadis? auf dem ersten Platz 1 Mark, auf dem zweiten 80, und auf dem dritten Platz 60 Pfennig. Schüler zahlten die Hälfte. Im Vergleich dazu war Königin Luise mit 60, 40 und 30 Pfennig preiswert gewesen.
Zweifelsohne war es ein Verdienst des Kinobesitzers Wassermann, Filmkunst und Filmneuheiten nicht viel später als in der Großstadt Augsburg auf die Leinwand in der "Provinz" gebracht zu haben. Dadurch und als Begründer des ersten stationären Kinos, war er ein Pionier in der Krumbacher Kinogeschichte. Das gleiche gilt für Memmingen. Hier etablierten zwar die Kompagnons Mayr und Koch das erste ortsfeste Lichtspiel, der umtriebige Wassermann aber bestimmte zwischen 1913 und 1926 die Szene. Vermutlich als Folge des Ersten Weltkrieges geriet der Unternehmer in Memmingen in Schwierigkeiten, denn im Jahr 1919 erwog er den Verkauf seines Kinos an die Gemeinde.31 Der veranschlagte Kaufpreis von 40000 Mark zeigt, welchen Wert das von ihm ausgebaute und renovierte Kino besaß. Es gelang Wassermann aber, sich wieder zu erholen. 1920 wurden in seinem Zentral ca. 47000 Besucher gezählt, und seine Kammerlichtspiele, die am 1. 5. 1920 eröffnet hatten, sollen noch im gleichen Jahr ca. 38000 Zuschauerinnen und Zuschauer angezogen haben.32 Der Kino-Unternehmer Franz Sales Wassermann starb 1944 in Memmingen.
3. Abteilung: Ausblick
Wassermanns Rückzug hatte zunächst die Krumbacher Kinogeschichte unterbrochen. Auch der Erste Weltkrieg bewirkte einen Stillstand, sieht man von Angeboten wie einem am 10. November 1918 vorgeführten Kriegsfilm ab. Dieser verhieß dem Publikum noch am Kriegsende eine Schlachtenteilnahme gleichsam an vorderster Front.33
Den nächsten Versuch, ein ständiges Lichtspieltheater zu etablieren, unternahmen im Jahr 1919 Franz Xaver Kellner und sein künftiger Schwager, Martin Euba aus München.34 Am 10. Januar ersuchten sie um die Konzession zur "Aus
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übung eines Kinos", die ihnen bereits vier Tage später erteilt wurde. Ihre Krumbacher Lichtspiele im Löwensaal eröffneten am 23. März mit einem "Prachtprogramm"35. Bei der Premiere wie auch in den weiteren Vorstellungen 1919 dominierten rührende, schauerliche oder auch mondän-frivole Filmdramen sowie Komödien. Beide Gattungen hatten sich, neben den Aktualitäten, auch schon vor dem Ersten Weltkrieg der besonderen Gunst des Publikums erfreut.36 Verstärkt wurde nun mit dem Glamour von Filmstars geworben.
Am 22. Juni beispielsweise erhielten die Krumbacher Gelegenheit, wieder mit der umschwärmten Henny Porten im Film Christa Hartungen zu leiden, in dem die Schauspielerin den ungeliebten reichen Geschäftspartner ihres Vaters heiratet, um dessen Firma vor dem Ruin zu retten.37
Vorerst verlief die Krumbacher Kinogeschichte aber weiterhin diskontinuierlich. Noch 1919 wechselten die Lichtspiele zweimal den Besitzer und auch das Lokal: ab dem November fanden die Vorstellungen im Saal des Gasthauses zum Hirsch statt.
Zwischen 1921 und 1925 gab der Graveur Wilhelm Kallmeyer eine befristete Vorstellung als Kinobesitzer. 1926 schließlich wurde erstmals Johann Müller aktenkundig, nämlich im Zusammenhang mit der inzwischen erforderlichen Vorführerprüfung, die er im zweiten Anlauf bestand.38 Mit dem heute noch ortsbekannten Kinomüller wurde das moderne Massenmedium Kino endgültig zum festen Bestandteil des kulturellen Lebens in Krumbach.
Anmerkungen
1 S. Siegfried Zielinski: Zur Entstehung des Films für das Kino im Spannungsverhältnis von Technik und Kultur. In: Werner Faulstich/Helmut Korte (Hg.), Fischer Filmgeschichte Bd.1: Von den Anfangen bis zum etablierten Medium 1895-1924, Frankfurt/ Main 1994, S. 48 ff. Zum Licht und zur Lichtillusion s. Wolfgang Schiveldusch: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München, Wien 1983, S. 201 ff.
2 S. Georg Kreuzer u.a. (Hg.): Krumbach. Vorderösterreichischer Markt. Bayerisch Schwäbische Stadt, Bd.1: Von den Anfängen bis 1918, Krumbach 1993, S.189 ff., Bd. 2, Barbara Sallinger (Hg.), Krumbach im Zwanzigsten Jahrhundert, Krumbach 1993, S. 9 ff. u. S. 202
3 zur Veränderung der Wahrnehmung durch die Eisenbahn und zum "panoramatischen Blick", s. Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt/ Main, Berlin, Wien 1979, S. 51 ff.
4 Paul Hofmann: Auf der Suche nach den Anfängen der Kinematographie im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. In: Lisa Kosok/Mathilde Jamin (Hg.): Viel Vergnügen. Öffentliche Lustbarkeiten im Ruhrgebiet der Jahrhundertwende, Essen 1993, S. 240. Zitate zu den einzelnen Kinematographen s. Krumbacher Bote, Nr. 97, 29. August 1903 Nr. 64, 6. Juni 1908: Nr 32,16. März 1912
5 Krumbacher Bote, Nr. 79, 8. Juli 1911; "Riesen Welt-Kinematograph s. Nr. 36, 26. März 1304
6 Krumbacher Bote, Nr. 80,13. Juli 1912
7 Krumbacher Bote, Nr.134, 18. November 1911
8 Krumbacher Bote, Nr. 33,19. März 1912
9 Krumbacher Bote, Nr. 36, 26. März 1904
10 Krumbacher Bote, Nr. 79,13. Juli 1907
11 Krumbacher Bote, Nr. 80,11. Juli 1911
12 Krumbacher Bote, Nr. 50, 3. Mai und Nr. 51, 6. Mai 1913
13 Krumbacher Bote, Nr. 79,12. Juli 1913
14 Personalia, Berufsangaben und Kino National s. Memminger Adreßbücher von 1911, 1913 und 1929 sowie Stadtarchiv Memmingen: Meldekarte; Gewerbe-Anmelderegister 1908-1921, Eintrage vom 12. 4.1912, 3. 5.1916 und 11. 7.1917; BAZ 313, Kinematographen, Schreiben vom 13. Mai 1911 u. folg. Vorgänge
15 zu Mayr und Koch und zum Aufkauf ihres Kinos s. Stadtarchiv Memmingen, BAZ 313, Kinematographen; Gewerbe- Anmelderegister, Einträge vom 1. 9.1910 und 26. 8. 1913
16 Stadtarchiv Memmingen, BAZ 313, Kinematographen
17 Stadtarchiv Krumbach, Altregistratur EA 313, Lichtspielwesen, auch zum Folgenden
18 Stadtarchiv Memmingen, BAZ 313, Kinematographen, Schreiben vom 13. Mai 1911
19 Krumbacher Bote, Nr. 79,12. Juli 1913
20 zur Eröffnungsvorstellung und den Vorstellungen am 20. und 27. Juli, Krumbacher Bote, Nr. 77, 78, 79, 81, 82, 84 und 85 vom 8.,10.,12.,17.,19., 24. und 26. Juli 1913
21 zum Brand Stadtarchiv Krumbach, Altreg. EA 313, Lichtspielwesen, Polizeibericht vom 4. 8.1913; am 5. 8. forderte der Staatsanwalt beim Landgericht Memmingen die Wassermann betr Akten vom Stadtmagistrat Krumbach an. Krumbacher Bote, Nr. 86, 29. Juli 1913
22 Krumbacher Bote, Nr 155,19. November 1913
23 Stadtarchiv Krumbach, Altreg. EA 313, Lichtspielwesen; im Gutachten des Bezirksbaumeisters vom 21.11.1913 findet sich der Auflagenkatalog.
24 Letzte Annonce Wassermanns, Krumbacher Bote, Nr.137, 17. Juni 1914: in Nr. 136,16. Juni 1914 waren die im Sommer seltenen Aufführungen angekündigt worden.
25 Stadtarchiv Memmingen, BAZ 313, Kinematographen. In einem Polizeibericht vom 20. Juli 1916 erscheint Wassermanns Ehefrau als "Kinobesitzerin". In einem Schreiben vom 7. Juni 1918 an den Memminger Stadtmagistrat gibt Wassermann an, daß er nur auf Zeit beurlaubt sei und jederzeit damit rechne, wieder eingezogen zu werden.
26 Stadtarchiv Memmingen, BAZ 313, Lichtspielwesen, Randvermerk auf einem Schreiben des Staatsmin. d. K. Hauses u. d. Äußern: zu Wassermanns Familie vgl. Meldekarte und BAZ 313, Kinematographen. In seinem Schreiben vom 7. Juni 1918 erwähnt Wassermann seine 11 köpfige Familie. In den 1920er Jahren wurde Wassermann auffällig, weil er zwei Sohne gegen Verordnungen als Vorführer einsetzte.
27 hierzu und folg. Zitate Krumbacher Bote, Nr. 6, 9. Januar 1914, Nr. 49, 28. Februar 1914, Nr 136 und Nr.137,16. und 17. Juni 1914
28 Krumbacher Bote, Nr.155, 13. November 1913
29 Quo Vadis? Krumbacher Bote, Nr 166, 2. Dez.1913; Nr 167, 3. Dez., Nr.169 und Nr 170, 2. Bl., 5. und 6. Dez.1913. Der Student Nr.181, 20. Dez. und Nr 184, 24. Dez.1913. Die letzten Tage von Pompeji Nr. 85,14. April 1914, hier auch zur defekten Kopie von Ouo vadis.7, Nr. 86 und Nr. 87,15. und 16. April 1914. Filme mit Henny Porten z. B. Wankender Glaube Nr 59, 2. März 1914 und Ihre Hoheit Nr. 117, 22. Mai 1914. Zu den angeführten Filmen und zu Henny Porten Fischer Filmgeschichte Bd.1, S.150 ff., 219 ff. und 288 ff.
30 Fischer Filmgeschichte Bd.1, S. 224
31 Stadtarchiv Memmingen, BAZ 313, Kinematographen, Brief Wassermanns vom 7. Juni 1918, in dem er seine materielle Situation beklagt. Zu den Verkaufsplänen ebd., Schreiben des Stadtrats Georg Danneker vom 9. Dez.1919
32 Stadtarchiv Memmingen, BAZ 313, Lichtspielwesen, "Fragebogen über Ausbreitung der Kinos" des Dt. Städtetages, dat. Memmingen, 22. April 1921. Im Adreßbuch von 1926 erscheint Wassermann als Besitzer der Kammerlichtspiele.
33 Staatsarchiv Augsburg, BA Krumbach 820, einem Vermerk auf einer Verordnung des Staatsmin. d. Inn. zufolge existierte im Jahr 1915 kein Kino im Bezirksamt Krumbach. Zum Kriegsfilm Krumbacher Bote, Nr 259, 8. Nov.1918
34 Stadtarchiv Krumbach, Altreg. EA 313, Lichtspielwesen
35 Krumbacher Bote, Nr 60, 15. Marz 1919
36 vgl. Hofmann, wie Anm. 4, S. 229
37 Krumbacher Bote, Nr 136,18. Juni und Nr.138, 21. Juni 1919; zum Film Christa Hartungen Fischer Filmgeschichte Bd.1, S. 294
38 zu Kallmeyer siehe den Beitrag von M. Kolb in diesem Buch. Zu ihm und Johann Müller auch Stadtarchiv Krumbach, Altreg. EA 313, Lichtspielwesen, und Staatsarchiv Augsburg, BA Krumbach 820