"Die Damen werden recht
herzlich gebeten, die Hüte abzunehmen !" Frühes Kino in Ostfriesland Ein umfassender Überblick über sämtliche Kinogründungen in Ostfriesland kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Für die nähere Betrachtung bieten sich die drei ersten Kinos in Leer geradezu an, da an ihnen beispielhaft die Entwicklung vom Ladenkino zum Lichtspielhaus nachvollzogen werden kann, ihr Wirken lückenlos im „Leerer Anzeigeblatt" durch Inserate und Besprechungen festgehalten und ihre Geschichte auch begrenzt ist (als letztes der drei Kinos schließt das „Lichtspielhaus" 1915). Bei der etwas ausführlicheren Darstellung einzelner Themenbereiche werden aber auch, wenn möglich, Beispiele aus anderen ostfriesischen Städten herangezogen, um die Entwicklung in den anderen Orten nicht unberücksichtigt zu lassen.
Abb1 Schon in der Frühzeit des Films erwies sich der erzwungene Erwerb der Bilder als äußerst unpraktikabel für ortsfeste Kinos. Veräußerungsanzeige des Wiener Edisontheaters. Komet, 24.7.1897 Ab ca. 1908 machten die in vielen Städten gegründeten kleineren Kinos den Wanderunternehmen das Leben schwer. Durch fast immer wöchentlichen Programmwechsel in den festen Abspielstätten wurde das Filmsehen zum Alltagsvergnügen, eine Sensation, die auf dem Jahrmarkt die Massen anziehen konnte, war der Film ab sofort nicht mehr. Ein „Kampf zwischen Wanderkino und ortsfesten Filmtheatern"1 hat in Ostfriesland nicht stattgefunden. Schon sehr bald nachdem ein Kino seine Pforten geöffnet hatte, waren keine Wanderkinos auf den örtlichen Jahrmärkten mehr zu finden. Nach Emden kamen nach der Eröffnung des „Kino-Salons" 1908 noch zwei, 1909 gerade noch ein Schausteller mit ambulanten Kinos, in Leer sah es ähnlich aus. In Wilhelmshaven gar ist schon ab September 1905, nachdem die Variete- und Gaststättenbesitzer die kinematographischen Vorführungen selbst in die Hand genommen hatten kein einziger fahrender Filmvorführer mehr durch Annoncen im „Wilhelmshavener Tageblatt" aufgefallen! Vor 19072 mußten die Filme zum Meterpreis von ca. einer Mark direkt beim Produzenten erstanden werden, wodurch schon vor dem Aufkommen der ersten längeren Filme ab ca. 1903 die Entstehung von kleineren Kinos auf dem Land verhindert wurde. Die Filmbesitzer waren gezwungen zu reisen, um den Film vor möglichst vielen Zuschauern abzuspielen, oder sie bildeten Verleihringe, die ihnen und ihren Partnern einen Programmwechsel ermöglichten. So auch in Wilhelmshaven: Unter der Überschrift „Films!" inserierte das einen Projektor betreibende „Cafe Grandt" am 28.12.1906 im Wilhelmshavener Tageblatt: „Möchte 800 m neue Sachen, zusammen oder geteilt, auf 8 Tage billig verleihen." Erst die Schaffung eines Verleihbetriebes für Filme machte das Entstehen von Kinos in kleineren Städten in der Provinz möglich. Nach Einführung des Verleihsystems war ein Kinoboom zu verzeichnen, und so konnte man auch bald in Emden und Leer in ein ständiges Lichtspiel- 342 haus gehen. Am 26. August 1908 um 16 Uhr wurde der „Grand-Kinematograph" in der Kirchstraße l eröffnet. Dieses Kino war beileibe nicht groß, das Äußere und der Grundriß des Hauses in der Leeraner Altstadt bestätigen die Vermutung, daß es sich bei Leers erstem Kino um ein typisches Ladenkino gehandelt hat. Ohne größere Umbaumaßnahmen wurde in einem vorhandenen Raum, in diesem Fall ein kleiner Lagerraum, ein Projektor aufgestellt und ohne Umschweife damit begonnen, Filme zu zeigen. Das neue Kino zog schnell das Publikum an, in der lokalen Zeitung „Leerer Anzeigeblatt" wurde ausnahmslos über guten Besuch berichtet. Das Blatt begrüßte seinen neuen Inserenten mit einem freundlichen Artikel und schloß: „In technischer Vollendung werden uns neben landschaftlichen Reizen Bilder aus der Sportwelt, neueste Erfindungen, ernste und heitere Episoden aus dem Leben naturgetreu vorgeführt, und in den Zwischenpausen sorgt ein Phonograph für die Unterhaltung. Bei den niedrigen Eintrittspreisen und dem jede Woche wechselnden Programm wird der Besuch gewiß stets ein guter sein. Jedem, der sich für einige Stunden angenehme Unterhaltung verschaffen will, kann der Besuch des Kinematographien nur empfohlen werden."3 Gezeigt wurden für den Preis von 25 Pfennigen für den zweiten und 40 Pfennigen für den ersten Platz in der überwiegenden Zahl humoristische bis drastisch-komische Filmchen. Kolorierte Reisebilder, die dem bildungshungrigen Teil der Besucher entgegenkamen, waren nur zu Beginn der Spielzeit des „Grand-Kinematograph" in den Programmen zu entdecken. Eine typische Spielfolge (vom 2.10.1908) sei hier genannt: - Konstantinopel (sehr bilderreich) - Der Gatte der Frau Doktor (sehr humoristisch) - Ein Drama hinter den Kulissen - Fidele Hochzeit (urkomisch) - Durchgebrannte Fässer (sehr heiter) - Hunde-Variete (interessanter Dressurakt) - Hochzeit des Uhrmachers. Betreiber des „Grand-Kinematograph" war der 46jährige, erst am 21. August 1908 aus Emden nach Leer zugezogene Alfred Paris. Sein Name wurde nie in den Anzeigen des Unternehmens genannt, er geht nur aus der Liste über die Lustbarkeitssteuern der Stadt Leer hervor. Auch sonst erweisen sich die Unterlagen über die Lustbarkeitssteuern der einzelnen Städte, soweit noch vorhanden, als Quelle vielfältiger Informationen. Jede „Lustbarkeit", sei sie ein Tanzvergnügen oder ein Karussell, ein Panorama oder eben ein Kinematograph, wurde erfaßt und besteuert. In Leer mußte eine Pauschalsteuer pro Tag entrichtet werden, deren Höhe augenscheinlich von den zu erwartenden Einnahmen des Veranstalters abhing. Für eine Tanzbelustigung mußte 20 Mark, für ein Konzert und eine theatralische Aufführung drei Mark pro Abend abgeführt werden; Gröning mußte 1897 für die erste kinematographische Vorführung zwei Mark an Steuern bezahlen. Später wurde der Betrag für Filmvorführungen auf drei Mark angehoben und somit anderen Lustbarkeiten angeglichen. Von einer Sonderbesteuerung der Kinematographen, die gar „ursprünglich der Erdrosselung des Gewerbes dienen"4 sollte, konnte also keine Rede sein. Als Alfred Paris im August 1908 das erste Leeraner Kino eröffnete, hatte sich an dieser Praxis nichts geändert; pro Abend mußten zwei Mark an Lustbarkeitssteuern entrichtet werden. Dies aber mußte nun zum Problem werden, denn die Steuern wurden bisher für gelegentlich zur Aufführung gelangende Attraktionen verlangt, die als rare Gelegenheiten zur Zerstreuung viel Volk anzogen. Für ein regelmä- 343 ßig spielendes Unternehmen aber mußte die Lustbarkeitssteuer, auch wenn sie es ursprünglich nicht war, zur Sondersteuer werden. So kam es, daß Paris mit seinem kleinen „Grand-Kinematograph" im Zeitraum Anfang September bis Anfang Oktober 1908 23% der Lustbarkeitssteuer in Leer bestritt (70 von 308 Mark). Die geforderten zwei Mark pro Tag waren im Vergleich zu anderen Städten, die sicher auch andere Verdienstmöglichkeiten boten, wahrlich nicht viel. Die Zeitschrift „Der Kinematograph" gab in seiner Ausgabe vom 10.8.1910 eine Auflistung, die hier auszugsweise wiedergegeben werden soll: „Cottbus: Wochentags 5 bis 15 Mk., Sonn- und Feiertag 10 bis 20 Mark. Flensburg: 5 Mk. Neumünster: l bis 20 Mk. Schleswig: l bis 10 Mk." Man sieht, Leer blieb im Rahmen. Trotzdem hatte der Magistrat im September 1910 ein Einsehen: „Der Antrag Dirks auf Pauschalierung der Lustbarkeitssteuer auf 10 Mk. monatlich wird vorläufig auf 1 Jahr genehmigt."5 Diese Regelung galt dann auch für Leers dritten Kinobetreiber Heinrich Buschmann vom „Palast-Theater". Sie hatte Gültigkeit bis zum Dezember 1913 und wurde dann nicht mehr verlängert. Danach trat wieder die alte Regelung in Kraft, es mußten zwei Mark für jeden Aufführungstag bezahlt werden, für den Januar also 62 Mark und für 344 den Februar 1914 56 Mark. Es scheint, daß beide Kinounternehmer mit Verweigerung der Zahlung reagierten, denn bei beiden wurde der Betrag für den Februar per Pfändungsbescheid eingetrieben. Auch wenn über den Zeitraum bis 1920 keine weiteren Akten und Schriftstücke vorliegen, so ist doch mit Recht zu vermuten, daß die Lustbarkeitssteuer auch weiterhin ein Zankapfel zwischen Magistrat und Kinobesitzern blieb. In einer Protestanzeige im Anzeigeblatt vom 3.6.1920 beklagte Buschmann, daß er in einem Monat 1620 Mark Lustbarkeitssteuer zu bezahlen hätte und sich folglich dazu gezwungen sehen würde, nur noch am Sonntag das Kino spielen zu lassen. Und weiter: „Wenn einer der Herren Magistratsmitglieder Besitzer vom Kino wäre, sollte dann die Vergnügungssteuer auch wohl so hoch sein, daß der Besitzer seine Unkosten nicht machen kann?" In der Tat hatten sich die Steuerbelastungen, bezogen auf den Preis einer Eintrittskarte, in Leer vervielfacht. 1913, als noch ein Pauschalbetrag von 10 Mark pro Monat galt, mußte Buschmann vom Palast-Theater im 2. Rang (Preis: 30 Pfennige) 34 Karten verkaufen, um die Steuer begleichen zu können. Im Januar 1914, nun sollte er 62 Mark bezahlen, waren es schon 207 Karten, und im Juni 1920, zur Zeit der Anzeige, mußten bei einem Preis von 3,50 Mark für den 2. Platz 463 Besucher allein für die Vergnügungssteuer bezahlen! (Umgerechnet auf den 1. Platz oder die Loge reduzieren sich die Zuschauerzahlen natürlich, das errechnete Verhältnis von l :6:14 aber bleibt in etwa bestehen.) Auch in anderen Städten in Norddeutschland gab es Konflikte wegen der hohen Steuer, auf die wir hier nicht näher eingehen wollen. Erwähnt sei nur, daß in Wilhelmshaven am 13. Oktober 1920 sämtliche Gaststätten und Kinos aus Protest gegen die erhöhte Lustbarkeitssteuer geschlossen blieben. Der 1908 in den Lustbarkeitssteuerlisten vermerkte Alfred Paris war es auch, der Anfang Dezember 1908 seinen „Grand-Kinematograph" schloß und mit dem „Kino-Salon" in der Heisfelderstr. 14 Leers zweites Kino eröffnete. „Das neue Lokal wurde gewählt, weil es bedeutend höher ist als bisher, sodaß alle Zuschauer die lebenden Photographien von jedem Platze aus gut übersehen können, selbst wenn die Damen mit ihren für Theaterverhältnisse nicht gerade praktischen Hutformen die Aussicht erheblich versperren. [...] Wir wünschen dem Unternehmen auch in seinem neuen Heim den besten Erfolg."6 Dieser Artikel gibt neben einer Beschreibung des neuen Kinos auch einen Eindruck davon, wie beengt es in der wohl provisorischen Abspielstätte m der Kirchstraße l zugegangen sein muß. Die hier erwähnte Damenmode dürfte ein wirkliches Ärgernis gewesen sein. Noch 1910 wurden von der Firma Unger & Hoffmann in Dresden Diapositive für den Einsatz in Kinos angeboten, auf denen neben „Es wird gebeten, nicht zu rauchen", und „10 Minuten Pause" auch „Die Damen werden recht herzlich gebeten, die Hüte abzunehmen!"7 zu lesen war. Der Leeraner „Kino-Salon" nahm am 3. Dezember 1908 seinen Betrieb auf. Bis auf einen schnell behobenen „Radbruch am Apparat", über den die Zeitung am 12.12.1908 schrieb, lief alles ohne größere Auffälligkeiten, bis im Anzeigeblatt vom 22.1.1909 die Ankündigung erschien, daß der „Kino-Salon" am gleichen Tage wegen Umbauarbeiten geschlossen bleiben und am 23.1. ein neues, hochinteressantes Programm beginnen sollte. Diese Anzeige blieb das letzte Lebenszeichen des noch nicht einmal zwei Monate spielenden Kino-Salons. Aus der kompletten Liste über die Lustbarkeitssteuer der Stadt Leer geht eindeutig hervor, 345 daß Alfred Paris keine weiteren Filmvorführungen in Leer mehr veranstaltet hat. Am 19. März 1909 meldete er sich in Leer ab und verließ die Stadt in Richtung Bremen, über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Ob die Schließung des Kinos in der Heisfelderstr. 14 vielleicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der sicher schon in der Vorbereitung befindlichen weiteren Kinogründung in Leer stand, ist nicht klar, erstaunlich aber ist der reibungslose Übergang vom „Kino-Salon" zum neuen „Metropol-Theater" schon.
Abb. 6 Ein Schuppen wird zum Kino. Hochbauamt Leer Knapp drei Wochen, nachdem Alfred Paris im Kinosalon aufgehört hatte Filme zu zeigen, eröffnete der Mann in Leer ein Kino, der noch heute als Tausendsassa und Wegbereiter der Technik in der Stadt gilt: Diedrich Dirks. Er war Betreiber des ersten Automobilhauses und einer angeschlossenen Fahrschule, verkaufte Pfaff-Nähmaschinen und Adler-Fahrräder und lieferte in seiner Eigenschaft als Vertreter der AEG elektrische Licht- und Kraftanlagen. Außerdem beherbergte er in seinem Hause in der Mühlenstraße kurzzeitig ein Kaiser-Panorama und ein Fotoatelier. Ein Technik-Pionier allererster Güte also. Nun richtete er ein Kino ein, indem er seinen Schuppen in der Wilhelmstraße 96 umbaute. Die erhaltenen Bauskizzen zeigen, daß nicht viel verändert wurde. Der Schuppen bekam einen Vorbau, der, als „Motorraum" deklariert, vermutlich Standort des Projektors war, denn 1910 war es Vorschrift in festen Theatern, daß der Vorführapparat sich abgetrennt vom Zuschauerraum in einer feuersicheren Kabine befinden mußte. Diese Regelung war durchaus nicht unbegründet. In Wilhelmshaven brannte es mehrmals im „Operateurraum", glücklicherweise konnte das Feuer immer schnell gelöscht werden. Der spektakulärste Fall jedoch ereignete sich in Emden. Das am 10. Dezember 1908 offiziell eröffnete „Apollo"-Thea-ter in der Neutorstraße brannte schon am 16. Dezember nach noch nicht einer Woche Spielzeit gänzlich aus. Zu Schaden kam keiner der Besucher, die in aller Ruhe das Kino verlassen konnten. Immerhin eine Stun- 346 de benötigte die Feuerwehr, um des Feuers Herr zu werden. Wie so oft entstand das Feuer dadurch, „daß ein Film Feuer gefangen habe."8 Dies konnte dadurch passieren, daß bei einer Stockung des Filmtransports das heiße Licht auf den ruhenden Film fallen und ihn entzünden konnte (was durch Vorrichtungen an den Apparaten schon bald fast unmöglich gemacht wurde), oder dadurch, „daß unerfahrene Leute, welche den Apparat zu bedienen haben, in dem Räume ihre Zigarre rauchen, mit offenem Licht hantieren oder die noch glühenden Kohlenstücke der elektrischen Bogenlampe fortwerfen."9 Ganz sicher konnte man sich in der Frühzeit des Films in den Kinos nicht fühlen. Abb.7 Das Apollo- Kino in Emden, das 1908 vierzehn Tage nach der Eröffnung total ausbrannte. Rechts daneben Optiker Fokuhl, der Brandschaden erlitt. Foto: Georg Fokuhl, Emden. In Leer hingegen ist von einem Brand in einem der Kinos nichts bekannt. Auch für guten Zu- bzw. Abgang war in Dirks' Kino gesorgt. Der ca. 80 qm große Zuschauerraum bekam drei Zugänge zum schlauchartigen Flur. Dem Anspruch „vornehmstes und größtes, der Neuzeit entsprechend ausgestattetes Etablissement in Leer"10 zu sein, konnte das „Metropol"-Kino wohl, da einzig, genügen. Eine Höhe von nur 3,40 Metern hingegen konnte kaum ausreichen für ein „der Großstadt entsprechenden Etablissement".11 Auch dürfte der in der Bauskizze „Closet" genannte Raum mit seinen höchstens 2,5 qm schwerlich großstädtischem Ansturm gewachsen gewesen sein. Am 10. Februar 1909 wurde das neue Leeraner Kino in der Wilhelmstraße eröffnet. Nun, und damit war endlich der Vorsprung der mit aufwendiger Technik ausgerüsteten Wanderkinos wettgemacht, war auch in Leer eine Spielstätte zur Vorführung der damals so beliebten Tonbilder vorhanden. Einer von meistens acht Kurzfilmen eines Programms war ein Tonbild. War das Publikum anfangs schon begeistert, wenn überhaupt ein Ton, passend zum Bild, zu hören war, so erlahmte das Interesse allgemein in dem Maße, in dem sich die künstlerische Qualität der Stummfilme zu steigern vermochte. Schon am 6. November 1910 spielte Dirks mit „Fantasie aus Mikado" letztmalig ein Tonbild. 347 So richtig stumm lief der Film nie ab. Grammophonmusik sorgte für nicht immer passende Begleitung, und wem die Vorgänge auf der Leinwand undurchschaubar blieben, dem half Herr Dirks persönlich. Als sog. „Erklärer" vorn auf der Bühne stehend, gab er auf „Platt" und mit dem Stock auf Personen und Situationen weisend, manchen Filmen erst Witz und Spannung. Wie lange im ostfriesischen Raum noch Erklärer tätig waren, läßt sich nicht sagen, vermutlich aber endete ihre Tätigkeit weit vor 1925, als „auch in den Kinos der dunkelsten Provinz kein Filmerklärer mehr seine Stimme erhob."12 Auch sonst war kaum ein Unterschied zu den Darbietungen eines Paris oder etwa denen der Wanderkinobetreiber festzustellen. „Und selbst in den Jahren der endgültigen Seßhaftigkeit herrschte infolge der instinktlosen, amusischen Einstellung der Kintopp-Besitzer ein tolles Programmdurcheinander, da man sich streng an das Goethewort zu halten schien, daß, wer Vieles bringt, manchem etwas bringen müßte." 1910 wird m einer Fachzeitschrift eine „Normalformel für Programmzusammenstellungen" abgedruckt: „Musikpiece, Aktualität, Humoristisch, Drama, Komisch. — Pause. — Die große Attraktion, Wissenschaftlich, Derb komisch."13 Die Programme, die in Ostfriesland in jener Zeit gezeigt wurden, lassen sich oft in dieses Schema einordnen, das die von Panofsky zitierte „Eicht-Bild-Bühne" aufgestellt hat. Die meist aus acht oder neun Filmen bestehenden Programme stellten keine Ansprüche an das Publikum, das Kino hatte in den Anfangsjahren keinerlei Ambitionen, mit dem Theater und seinem Bildungsanspruch konkurrieren zu wollen. „Das Kino war folglich konkurrenzlos, so es sich um ein ungebildetes Publikum handelte. Diese Menschen hungerten förmlich nach künstlerischen Erlebnissen, wurden aber mit diesem Hunger allein gelassen, ohne ästhetische Erziehung, ohne Hinweise, die ein Unterscheiden von Kunst und Schmiere erlaubt hätten."14 Die Berührungsangst gegenüber den „Schundfilmen" hat dazu geführt, daß bis zum heutigen Tag die Frühzeit des Films kaum erhellend behandelt wurde. Die Geschichte des Films beginnt dann, wenn der Film künstlerischen Ansprüchen genügen kann, also das Schenkelklopfen beim ungebildeten Publikum ein Ende hatte. In der oben zitierten Analyse ist sich Toeplitz einig mit damaligen bürgerlichen Kulturträgern und kirchlichen Wahrern der Moral, die die für den Klingelbeutel bestimmten Groschen in die Kinokassen entschwinden sahen und deshalb umso vehementer vor dieser Gefahr warnten. W. Conrad listete m der Broschüre auf, was dem Publikum in den dunklen Sälen zugemutet wurde: „Bei den der Untersuchung zugrunde gelegten 250 Filmen traten auf: 97 Morde, 45 Selbstmorde, 51 Ehebrüche, 19 Verführungsszenen, 22 Entführungen, 35 Betrunkene und 25 Dirnen. Das war die geistige Nahrung, mit der die Produzenten Millionen von Zuschauern ernährten."15 Diese eindeutige Kampfhaltung gegenüber dem Kino führte zu den im Beitrag „Im Kino gewesen. Geweint." von Jens Thiele geschilderten Sanktionen wie der Zensur und bisweilen auch zur Einführung einer drastischen Lustbarkeitssteuer (Berlin). Ungeachtet aller Anfeindungen erfreute sich Dirks' Kino großer Beliebtheit, laut Zeitungsbericht vom 11.1.1910 fand das Programm „gestern derart starken Zuspruch, daß viele Besucher mit einem Stehplatz vorlieb nehmen mußten." Der Erfolg war nicht verwunderlich, denn Dirks bemühte sich, dem Publikum Besonderes zu bieten. Auch in seinem Kino kam es zur Vorführung von lokalen Aufnahmen, derer sich ja schon die Wanderkinos mit gutem Ergebnis bedient hatten. Vom 20. bis 348 22. Oktober 1909 waren „Gruppen aus dem diesjährigen Gallimarkts-Festzug, hochfein koloriert, aufgenommen von Herrn Br. Fischer hier" im Metropol zu sehen. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, daß der ortsansässige Fotograf Bruno Fischer im Besitz einer Aufnahmekamera war und sich die Mühe gemacht hat, Bild für Bild eines 35 mm-Films zu kolorieren, es wird sich daher wohl um Dias gehandelt haben. Festzustellen bleibt, daß die Aufnahmen gut gelungen waren: „Die Bilder von dem historischen Festzuge, die gestern abend im Metropol-Theater gezeigt wurden, sind besonders scharf getroffen und vorzüglich ausgeführt. Die Vorführungen derselben zusammen mit dem sonstigen interessanten Programm wird heute abend nochmals wiederholt."16 Dies waren nicht die einzigen Aufnahmen aus der Region, die im Metropol vorgeführt wurden. Im Oktober 1910 zeigte Dirks im Rahmen eines normalen Programms Aufnahmen aus Norderney. Die Besprechung in der Zeitung ähnelt denen aus der frühesten Zeit des Films, auch damals wurde dessen „Lebenswahrheit" betont: „Der Besitzer des Metropoltheaters versteht es, stets interessante und anziehende Bilderse-nen vorzuführen. Im neuen Programm wartet er zunächst mit Naturaufnahmen aus Norderney auf, also mit Bildern, die wohl jeder der Besucher auf ihre Echtheit prüfen kann."17 Vom 4. bis 7. Februar 1913 war dies noch eher möglich, denn die Bilder, die nun zu bejubeln waren, stammten aus dem unmittelbaren Lebenszusammenhang der Ostfriesen: „Das diesjährige Klootschießen zwischen Oldenburg und Ostfriesland bei Westerstede" dürfte wohl bei den meisten der Besucher Begeisterung ausgelöst haben. Als Besonderheit wurde herausgestellt: „Lehrer Hinrichs, der den 95 Meter-Wurf machte, ist sehr deutlich auf dem Bilde getroffen." Im Laufe des Jahres 1913 scheint der Betreiber des mittlerweile bestehenden Konkurrenzunternehmens „Palast-Theater", Heinrich Buschmann aus Leer, sich eine Kamera zugelegt zu haben. Er drehte einen Film über den Festzug anläßlich der Jahrhundertfeier der Völkerschlacht bei Leipzig am 19.10.1913 in Leer, den er in seinem Kino vom 25. bis 27. Oktober 1913, im Rahmen des Weihnachts- und Neujahrsprogramms des gleichen Jahres und noch einmal auf Wunsch des Publikums vom 30.6. bis 3.7.1916 (!) vorführte. Kurz nach Herstellung des ersten Films kam am 4.11.1913 als „Extra-Beilage" zum normalen Programm der erste selbstgedrehte „Spielfilm" zum Einsatz. Bei den Aufnahmen „Die vielumstrittene Ringbahn" handelte es sich nicht um die üblichen Dokumentaraufnahmen, sondern um einen „kinematographischen Scherz", einen Film mit gestellten Spielszenen. Auch Emden hat seine eigenen lokalen Aufnahmen vorzuweisen. W. Jentsch, Betreiber des „Kino-Salons" in der Neutorstraße, erregte schon im Vorfeld des Schützenfestes 1909 Aufsehen: „Am Montag werden der Schützenfestzug sowie Teile vom Festplatz und anderes von der Leitung des Kino-Salons kinematographisch aufgenommen. Diese Aufnahme dürfte dazu beitragen, dem Kino-Salon in nächster Woche ein volles Haus zu sichern." 18 Ab 13. September d.J. konnten die Filmaufnahmen aus Emden im Kino-Salon begutachtet werden. Der Andrang war so groß, daß die Vorführung der Schützenfest-Bilder um eine Woche verlängert werden mußte. „Man teilt uns mit: Großen Beifall finden allabendlich die vom Kino-Salon aufgenommenen Szenen vom Schützenfest. Da bekanntlich eine kinematographische Aufnahme aus unserer Stadt noch nicht gemacht worden ist, ist es kein Wunder, wenn dieses neue Unternehmen große Beachtung findet, und die Direktion für die mit vielen Kosten verbundenen Aufnahmen durch guten Besuch belohnt wird."19 349 Eine weitere Premiere konnte gleich mitbegangen werden: Die Kamera als Überwachungsinstrument feierte ihren harmlos und lustig erscheinenden Einstand. Die Ostfriesische Zeitung aus Emden zitierte am 30. Juni 1910 den Weserboten, der darüber berichtet hatte, daß ein Vater im Kino seinen Sohn in dem Streifen „Badende Kinder" wiedererkannt hatte, obwohl er ihm das Baden im Rhein verboten hatte. Die Zeitung weiter: „Ein gleiches Vorkommnis ist von Emden zu berichten. Es war Schützenfest gewesen, und ein Elternpaar hatte seinem Töchterchen nachdrücklich eingeschärft, auf dem Festplatz kein Eis zu essen. Nun wohnten die Eltern kürzlich einer Kinematographen-Vorstellung bei. Und was erlebten sie? Als ein vom Schützenfest aufgenommenes Bild vorgeführt wurde, sahen sie mit Staunen, wie ihre Kleine mit einem Papierteller mit Eis in der Hand eilig hinter einer Bude verschwand. So werden durch den Kino 'Verbrecher' überführt!" Selbstverständlich gab es auch von Wilhelmshaven Filmaufnahmen, aufgenommen durch einen der zahlreichen Filmvorführer. Schon früh, am 31. August 1905, wurde im Wilhelmshavener Tageblatt ein kundiger Kameramann gesucht: „Photograph gesucht zur Anfertigung von Kinematographen-Bildern. Apparate und Zubehör vorhanden. Anerbietungen unter S.H. 246 an die Expedition d.B." Wahrscheinlich hat diese Suchanzeige nicht zum gewünschten Resultat geführt, denn in der Folgezeit brüstete sich keine Vorführstätte mit Lokalaufnahmen. Erst 1908 wurde im Variete Adler mit Aufnahmen vom Kloot-Wettschießen zwi- 363. Enthüllung des Coligny-Denkmals in 'Wilhelmshaven am 19.10.1912. Die Enthüllung des Denkmals fand im Beisein Kaiser Wilhelms II. statt, der sich mit dem französischen Hugenottenführer verwandtschaftlich verbunden fühlte: Gaspard de Coligny war der Ur- Urgroßvater des ersten Preußenkönigs. Das Denkmal wurde im 1. Weltkrieg eingeschmolzen. Foto: Standbild aus dem 35mm-Film, Staatliches Filmarchiv der DDR 350 schen Butjadingen und Ostfriesland der Reigen der in der Jadestadt gezeigten Regionalaufnahmen eröffnet, der wegen der großen Anzahl hier nicht lückenlos dargestellt werden kann. Näher betrachtet werden soll die rege Aufnahmetätigkeit des Betreibers des Bismarck-Kinos, gelegen in gleichnamiger Straße. Von August 1911 bis August 1912 konnten die Wilhelmshavener, beginnend mit Aufnahmen vom „Familienfreibad Wilhelmshaven", fast jedes größere Ereignis auf der Leinwand nachempfinden. Am 21.1.1912 wurde sogar ein „Wilhelmshaven-Journal" vorgeführt, mit folgenden Aufnahmen. - Eisfest beim Offizierskasino - Schlittschuhlaufen auf dem Parksee - Die Gasexplosion bei Kaufmann Oesterheld - Straßenszenen von Wilhelmshaven - Rückkehr der Fahnenkompagnie des II. Seebataillons mit Musik von der Vereidigung. Bis 1913 kamen lokale Aufnahmen auch noch im Apollo-Kino und in den Kammer-Lichtspielen zur Aufführung. Den Schlußpunkt unter diese interessante Entwicklung bildete ein in den „Vereinigten Theatern" (Deutsche-Apollo-Lichtspiele) ab 24. November 1918 zu sehender Film über die Proklamation der Republik Oldenburg-Ostfriesland: „Wilhelmshaven im Zeichen der Revolution am 11.11.1918." Leider scheint bis auf einen 8-Meter-Rest über die Enthüllung des Coligny-Denkmals am 19.10.1912 in Wilhelmshaven keiner dieser Filme in unsere heutige Zeit hinübergerettet worden zu sein. Kommen wir zurück zu Dirks und seinem von der Bevölkerung so geschätzten „Metropol". Das etwas schäbige Äußere des Kinos ließ Diedrich Dirks nicht ruhen. Im Winter 1910/11 projektierte er einen Vorbau, der sicher auch großstädtische Ansprüche befriedigen konnte. Es handelte sich um ein pompöses Portal, das so gar nicht zu dem sonstigen Bau passen will. Die Front hatte lediglich repräsentative Funktion, dahinter verbarg sich weiterhin der umgebaute Schuppen. Lediglich der „Motorraum" war in der Zwischenzeit im Vergleich zur ersten Umbauzeichnung erheblich vergrößert worden. Auch zur Wilhelmstraße hin veränderte sich das Bild des Metropol: Ab Sommer 1910 kam ein prachtvolles Eingangstor hinzu, das weithin von der Existenz von Leers einzigem Kino zeugte. Wie im Beitrag von Jens Thiele über Film und Publikum näher erläutert wird, geriet der Film um 1910 ins Gerede, natürlich auch in Ostfriesland. Obwohl in der lokalen Zeitung „Leerer Anzeigeblatt" in dieser Beziehung nichts laut wird, müssen auch D. Dirks und sein Kino unter Druck gesetzt worden sein. In den Annoncen im Januar 1911 pries er sein Programm mit den Worten: „Die Vorführungen sind streng dezent, belehrend und unterhaltend, sodaß jedermann, groß und klein, dieselben besuchen kann. Jeder überzeuge sich und urteile nicht ungesehen und ungerecht. Dies ist die Pflicht jedes ehrlichen Menschen."20 Es half nichts. Am 16. Februar wurde im Anzeigeblatt eine kleine, für den Kinobesitzer Dirks sicher folgenschwere Notiz abgedruckt: „Kinematograph und Volksschulen. Auf Grund einer Verfügung der Königlichen Regierung ist sämtlichen Volksschülern hiesiger Stadt der Besuch der gewöhnlichen Kinematographenvorstellungen verboten." Um das zahlreiche und zahlungskräftige Publikum nicht zu verlieren, reagierte Dirks schnell. Schon am 18. Februar, in der nächsten Anzeige des Metropol-Theaters, kündigte er für sonntags Kindervorstellungen an. Am 1. und 5.3. erklärte Dirks der Bevölkerung Leers durch eine große Anzeige, warum und wie er Kindervorstellungen zu geben gedachte: „ Viel- 351 fachen, besonders auch seitens der Schulbehörde an uns ergangenen Wünschen Rechnung tragend, haben wir uns entschlossen, von jetzt ab jeden Mittwoch von 4 bis 6 Uhr Jugend-Vorstellungen mit besonders ausgewähltem Programm unter Weglassung aller Sensations-Stücke zu geben. [...] Wir können aber diese mit vieler Mühe und pekuniären Opfern entstandenen Jugendvorstellungen nur dann weiterführen und ausdehnen, wenn neben dem künstlerischen und bildenden Erfolg auch der pekuniäre nicht ausbleibt." 352 In Wilhelmshaven gab es einen sog. „Kinoausschuß", der die Belange der Jugend gegenüber dem Kino glaubte vertreten zu müssen, in Norden wurde ein Herr Albers zur Begutachtung von Filmen herangezogen. Den Filmen, die zur Vorführung vor erwachsenem Publikum gedacht waren, war schon von Produzentenseite die Freigabe der Berliner Polizeibehörde, die Zensurkarte, beigegeben. Woche für Woche mußte das „Apollo"-Kino Carl Schapers dem „verehrlichen Magistrat" in Norden vor Spielbeginn eine Liste mit den Filmen überreichen, immer mit dem Zusatz versehen „die Censurkarten befinden sich in unseren Händen". Die zuständigen Polizeiwachtmeister Bohlken und Höger ließen sich die Karten zeigen, inspizierten dann die Vorstellungen und gaben das Antragsformular zur Abheftung zurück, meistens mit dem handschriftlichen Zusatz „mit dem Berichte gehorsamst zurück, daß bei den Vorführungen keine Unregelmäßigkeiten vorgekommen sind. Norden, den... Bohlken, Polizeiwachtmeister."21 Völlig anders war die Praxis in bezug auf die Jugendvorstellungen. Hier mußte der schon genannte Albers im Auftrag des Magistrats entscheiden, ob er die zur Vorführung gedachten Filme für kinder- und jugendfrei hielt. Ein Gutachten von ihm sah folgendermaßen aus: „Norden, den 18.4.1914. Die Prüfung der Kinovorstellung 'die letzten Tage von Pompeji' hat stattgefunden. Wenn einige Bilder z.B. die Mißhandlung der Midia durch ihre Eltern, sowie die Überreichung der Giftbecher durch Midia an Klaubus, und die Ermordung des Menecras oben rechts: Abb.13 Zensurkarte des Berliner Polizeipräsidiums, die in der Regel in ganz Preußen Gültigkeit besaß. Herbert Birett (Hrsg.): Verzeichnis in Deutschland gelaufener Filme. München 1980, S. 697 353 auch nicht als schön bezeichnet werden können, so kommen auch wieder wunderschöne Naturaufnahmen zur Vorführung. Ich nenne den Ausbruch des Vesuvs mit prächtigem Farbenton. Diese Aufnahmen geben dem Stück m.E. einen naturwissenschaftlichen Wert und deshalb dürfte der Film nicht zu beanstanden sein. Selbstverständlich muß die Scene 'Im Tempel des Schicksals' wegfallen. Ein Textbuch füge ich bei."22 Nicht immer, wie im o.g. Fall, hielt Albers sich an das Zensururteil anderer Städte. Die Filme „Sardanapal, König von Assyrien" und „die Stenotypistin" wurden von ihm für Kindervorstellungen beanstandet, da „im ersteren der König von Assyrien mit cirka 40 Frauen verbrannt und im zweiten Bild eine Mutter infolge der vermeintlichen Verunglük-kung ihrer Kinder ein Bild des Jammers und Elends bietet". Schaper, der Kinobetreiber, wollte stattdessen die Filme „1. Kennzeichen des Banditen" und „2. Piff will Eierkuchen backen" zeigen. Albers' Urteil: „Gegen diese Filme werden keine Einwendungen gemacht, trotzdem der zu 2 genannte Film durch das Polizei-Präsidium Berlin für Kinder- und Jugendvorstellung verboten ist. Ich finde diesen Film jedoch völlig harmlos, das Bild wirkt nur humoristisch. Gehorsamst Albers."23 Abb.14. Benachrichtigung des Norder „Apollo "-Kinos. Bemerkung des Polizisten Höger: „[...] mit dem Bericht zurück, daß die Zensurkarten vorhanden waren, Unregelmäßigkeiten sind nicht wahrgenommen ". Staatsarchiv Aurich 354
Ein solches Beispiel macht klar, daß für den Bereich der Kinder- und Jugendvorstellungen der Willkür Tür und Tor geöffnet war. Nun aber soll die Aufmerksamkeit wieder der Entwicklung in Leer gehören. Das „Metropol-Theater" hatte unter diesem Namen und in seinem sich kaum von dem alten Schuppen unterscheidenden Domizil nicht mehr lange Bestand. Am 30. Mai 1911 erschien die letzte Annonce des Metropol-Kinos, bis zum 22. Juli scheint es geschlossen geblieben zu sein. Grund war eine rege Bautätigkeit, die über das Maß bisheriger Umbauten ging. Es entstand der erste Kinoneubau in Leer! Wie die Baupläne zeigen, kann von einem „Erweiterungsbau" kaum die Rede sein, derart umwälzend waren die Veränderungen. Von dem alten Schuppen
Abb.15. Das „Lichtspielhaus" in Leer, Wilhelmstr. 96. Hochbauamt Leer blieben lediglich die Grundmauern, die gleichsam die Grundstücksgrenze darstellten und so auf diesem Terrain schon das Äußerste erreichbarer Größe bedeuteten. Der kleinen Eingangshalle mit Flur blieb noch die Dachkonstruktion des Schuppens erhalten, ansonsten aber erinnerte nichts mehr an das alte „Metropol". Das Gebäude war nun fast acht Meter hoch, in ihm war es möglich, durch leicht nach hinten ansteigenden Boden im Parkett und Einbau einer Loge jedem Besucher einen freien Blick auf die sich jetzt hoch oben befindende Eeinwand zu ermöglichen. Zur Eröffnung am 22. Juli 1911 hatte Dirks ein Fest organisiert: „Am Eingang grüßten Fahnen und Wimpel den Besucher. [...] hatte schon das Aeußere ein einladendes Gepräge, so noch mehr das Innere. Der durch den Umbau entstandene hallenartige Bau gewährt einen großstädtischen Anblick: Die Wände haben geschmackvolle Dekorationen erhalten. Von der Decke leuchten hunderte bunter Birnen herab. 356 Die Beleuchtungswand ist höher gelegt. [...] Die Stadtkapelle ließ zu Beginn und während der Abwickelung des Programms flotte Weisen ertönen. [...] Der Besitzer Herr Dirks gab dem zahlreich vertretenen Publikum, das auch die neu eingerichteten Logenplätze besetzt hielt, das Versprechen, daß er bestrebt sein werde, nur gute, lehrreiche und einwandfreie Bilderserien darzubieten. [...] Das Publikum war vollauf befriedigt. Dem rührigen Besitzer ist zu wünschen, daß er für seine großen Aufwendungen belohnt werde. "24 Dieser Wunsch ging bald in Erfüllung, so daß zwei Monate später sich Diedrich Dirks in einer großen Annonce bei der Leeraner Bevölkerung für den „beispiellosen Zuspruch"25 bedanken konnte und den nun zweimal wöchentlich stattfindenden Programmwechsel ankündigte. Nach fünfeinhalb Jahren Monopolbetrieb, die für Dirks sicher sehr einträglich waren, eröffnete mit Heinrich Buschmanns „Palast-Theater" am 3.9.1913 ein Konkurrent sein Kino. Sofort gab Dirks noch am gleichen Tag kund, wie er auf das neue Unternehmen reagieren wollte: „Nach wie vor werden wir die neuesten, besten und einwandfreiesten Sachen auf dem Gebiet der Lichtbildkunst bringen. Um dem geschätzten Publikum noch weiter entgegen zu kommen, haben wir uns entschlossen, jede Woche größere Schlager zu bringen."26 Die Anzeigen wurden prächtiger und das Programm endlich „großstädtisch". Im Laufe des Winters 1913 konnte man im seit dem Umbau „Lichtspielhaus" genannten Kino von Diedrich Dirks eine Spielfilmreihe mit Asta Nielsen bewundern: - Der Totentanz 20. bis 22.10. - Wenn die Maske fällt 4. bis 7.11. - Das Mädchen ohne Vaterland 10. bis 12.11. - Jugend und Tollheit 18. bis 20.11. - Die Komödiantin 25. bis 27.11. - Die Sünden der Väter 1. bis 3.12. - Der Tod in Sevilla 9. bis 11.12.1913. Dem „Palast"-Theater allerdings war es gelungen, die Filme „Jugend und Tollheit" und „Der Tod in Sevilla" früher als das „Lichtspielhaus" vorzuführen. Es herrschte also mit einem Schlag reger Wettbewerb in Leers Kinoszene. Kurz darauf, am 1. März 1914, übergab Diedrich Dirks aus Krankheitsgründen das Lichtspielhaus an seinen Sohn Diedrich Dirks jun. Der im August ausbrechende Erste Weltkrieg konnte die Hochkonjunktur der Leeraner Kinos nur kurz beeinträchtigen. Schon am 13. August 1914 erschien die erste Annonce des Lichtspielhauses während des Krieges mit der Überschrift: „Einwandfreies Programm! Der ernsten Lage angepaßt!" Der Ertrag („nach Abzug der baren Auslagen") wurde, ebenso wie bei allen Vorführungen bis Anfang September, dem Roten Kreuz überwiesen. Ob diese Spenden letztendlich den Ausschlag dafür gaben, daß das Lichtspielhaus scheinbar ohne größere Einschränkungen seitens der Obrigkeit während des Krieges seinen Spielbetrieb aufrechterhalten konnte, ist ungewiß, läßt sich aber vermuten. In der Anfangszeit des Ersten Weltkrieges waren fast ausschließlich Schlachtenszenen und Kriegsdramen zu sehen. Eine Besonderheit zeigte Dirks vom 20. bis 23. November 1914. Sein Bruder Leonhard, genannt Leo, war im Rahmen der Bilder vom Kriegsschauplatz zu erkennen; für die Leeraner ein alter Bekannter, der schon vor dem Kriege als Kunstflieger auf sich aufmerksam gemacht hatte. Nach und nach gestaltete sich auch in Leer das Programm freundlicher. Die Zuschauer konnten nicht mehr Gefallen an den oft plump 357
nachgestellten Kriegsszenen und den patriotischen Dramen finden, sie verlangten nach Ablenkung. Zum Weihnachtsfest 1914 war dann mit „Das Rosapantöffelchen" von Franz Hofer wieder ein Lustspiel zu sehen. Ab 1915 ging es dann, abgesehen von den natürlich weiter gezeigten Schlachtszenen, etwas abwechslungsreicher auf der Leinwand zu. Historische Schauspiele wie „Die Herrin des Nils", dann auch zunehmend Lustspielschlager sorgten für Zerstreuung. „Das schwarze Kreuz", ein Sensationsschauspiel in 4 Akten, war der letzte Film, der unter der Leitung der Familie Dirks im Lichtspielhaus gelaufen ist.27 Am 30. Mai 1915 erschien im Leerer Anzeigeblatt die Ankündigung, daß das Lichtspielhaus während der Sommermonate geschlossen bleiben sollte, Gründe wurden nicht genannt. Ein Vierteljahr später wurde in der Zeitung eine Todesanzeige für den Kinobetreiber Diedrich Dirks abgedruckt, der am 16. August 1915 gefallen war. Die Familie Dirks sah wohl keine Möglichkeit mehr, das Kino weiterzuführen, denn das Lichtspielhaus wurde von ihr nicht mehr eröffnet. Der Tod Diedrich Dirks jun. bedeutete aber noch nicht das Aus für das ehemalige Metropol. Schon am 4. September 1915 erlebte Leer die Wiedereröffnung des Lichtspielhauses unter neuer Leitung, über die nichts weiter bekannt ist, als daß sie „in mehreren Großstädten schon mit Erfolg Kinotheater leitete."28 Karten waren auch jetzt noch bei Diedrich Dirks sen. in der Mühlenstraße im Vorverkauf zu bekommen, die Vorführungen wurden „sinngemäß und künstlerisch von Herrn Remmert-Stick-hausen"29 begleitet. Die neue Direktion gab nur ein kurzes Gastspiel in Leer. Am 24.9.1915 erschien der letzte Artikel, der im Leerer Anzeigeblatt auf ein gesondertes Programm im Leerer Lichtspielhaus aufmerksam machte. Das Lichtspielhaus wurde im weiteren Verlauf von Heinrich Buschmann vom „Palast-Theater" für sonntägliche Vorführungen benutzt. Am 1. Oktober 1915 findet sich die erste gemeinsame Anzeige im Anzeigeblatt, in der es hieß, „daß die früher von Herrn Dirks für das Lichtspielhaus verkauften Billets [...] auch fürs Palast-Theater Gültigkeit" hätten. Beide Theater spielten dann unter der Überschrift „Vereinigte Theater". Am 4. Februar 1916 endete die Geschichte des Lichtspielhauses als Kino, denn an diesem Tag erschien die letzte Annonce der Vereinigten Theater. Es war wohl nicht mehr rentabel für Buschmann, eigens für Sonntagsvorführungen eine Abspielstätte zu unterhalten. Anmerkungen 1 Zglinicki, Friedrich von: Der Weg des Films. Hildesheim 1979, S. 309. 2 Bächlin, Peter: Der Film als Ware. Frankfurt a.M. 1975, S. 25. 3 Leerer Anzeigeblatt, 61. Jg., Nr. 203, 28.9.1908. 4 Warstat, Dieter H.: Frühes Kino in der Kleinstadt. Berlin 1982, S. 151. 5 Handschriftlicher Beschluß des Magistrats der Stadt Leer vom 27.9.1910. Stadtarchiv Leer, Akte Nr. 968. 6 Leerer Anzeigeblatt, 61. Jg., Nr. 286,15.12.1908. 7 Der Kinematograph, Düsseldorf, Nr. 197, 5.10.1910. 8 Ostfriesische Zeitung, Emden, 97. Jg., Nr. 390, 17.12.1908. 9 Der Kinematograph, Nr. 16, 17.4.1907. 10 Leerer Anzeigeblatt, 62. Jg., Nr. 33, 9.2.1909 (Eröffnungsannonce). 11 Leerer Anzeigeblatt, 62. Jg., Nr. 33. 12 Orosz, Susanne: Weiße Schrift auf schwarzem Grund. In: Ledig, Elfriede (Hrsg.): Der Stummfilm (diskurs film. Münchner Beiträge zur Filmphilologie. Hrsg. von Ludwig Bauer, Elfriede Ledig und Michael Schaudig, Bd. 2). München 1988, S. 136. 13 Panofsky, Walter: Die Geburt des Films. Stiftung Deutsche Kinemathek (Hrsg.): Das wandernde Bild. Der Filmpionier Guido Seeber. Berlin (West) 1979,5.48. 14 Toeplitz, Jerzy: Geschichte des Films, Bd. 1. Berlin 1972, S. 39. 16 Leerer Anzeigeblatt, 62. Jg., Nr. 247, 21.10.1909 17 Leerer Anzeigeblatt, 63. Jg., Nr. 236, 8.10.1910. 18 Ostfriesische Zeitung, 98. Jg., Nr. 279, 4.9.1909. 19 Ostfriesische Zeitung, 98. Jg., Nr. 286,17.9.1909. 20 Leerer Anzeigeblatt, 64. Jg., Nr. 25, 29.1.1911. 21 Akte aus dem Stadtarchiv Norden. „Kinomatographentheater 1909/22", Depositum Staatsarchiv Aurich, Dep. LX 667. 24 Leerer Anzeigeblatt, 64. Jg., Nr. 172,25.7.1911. 25 Leerer Anzeigeblatt, 64. Jg., Nr. 224, 23.9.1911. 26 Leerer Anzeigeblatt, 66. Jg., Nr. 206, 3.9.1913. 27 Vgl.: Leerer Anzeigeblatt, 68. Jg., Nr. 122,28.5.1915. 28 Leerer Anzeigeblatt, 68. Jg., Nr. 205, 2.9.1915. 29 Leerer Anzeigeblatt, 68. Jg., Nr. 223,23.9.1915.
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