Kino als Überlebensmittel
Anfänge und Bedeutung dieses Mediums in der französischen Zone unter besonderer Berücksichtigung der Großstadt Ludwigshafen am Rhein
1945 - 1949
Von
Peter Gleber
Als im Januar 1946 im Ludwigshafener „Pfalzbau“ der französische Streifen „Die Satansboten“ von Marcel Carnè gespielt wurde, kam es in dem bis auf den letzten Platz besetzten Filmpalast mehrfach zu schallendem Gelächter*. Bei dem 1942 unter dem Originaltit el „Les visiteurs du soir“ gedrehten, im Mittelalter spielenden Drama handelt es sich um eine tragische Liebesgeschichte 1. Einen Grund zur Heiterkeit gab es also nicht. Die Presse empfahl deshalb voller Empörung den nur auf Lachen eingestellten Besuchern der Kinovorstellung ..., einen Zirkus oder ein Lachkabaret zu besuchen, da ihr Geld dort besser angelegt ist und sie andererseits nicht die anderen Zuschauer belästigen und stören 2. Waren die Pfälzer Cinèasten Kulturbanausen, die französische Filmkunst nicht zu schätzen wußten? Was war passiert? Gezeigt worden war der Streifen in der französischen Originalversion ohne Untertitel. Da die meisten Besucher jedoch kein Wort französisch verstanden, war es nicht verwunderlich, daß die fremdartig klingende Sprache, verbunden mit der Unkenntnis über die Handlung Lachen hervorrief. Ein Blick in die 1945/46 erschienenen Tageszeitungen der französischen Zone zeigt, daß ähnliche Vorfälle in jenen Tagen häufig vorkamen. Die Franzosen waren die Ärmsten unter den Alliierten , ihr Heimatland war von den Deutschen verwüstet worden und sie hatten in Deutschland die Verantwortung über eine stark zerstörte Zone, wo es zudem an städtischen
-404-
Zentren mangelte. Der Wiederaufbau der Kinolandschaft ging deshalb zunächst schleppend voran. Die traditionellen Filmproduktions- und Synchronisationszentren lagen alle in der amerikanischen und der sowjetischen Zone, weshalb an eine Übersetzung französischer Filme noch nicht zu denken war. Die deutschen Streifen waren ebenso diskreditiert, wie das System unter dem sie entstanden waren und mußten erst einer langwierigen Prüfung unterzogen werden. Trotz der unbefriedigenden Situation strömten die Menschen in die Filmpaläste, um wenigstens für ein paar Stunden den Alltag in Trümmern und Not zu vergessen. Täglich wurden die Besucherschlangen länger vor den notdürftig instandgesetzten Fassaden mit den bunten Reklametafeln in apokalyptischer Umgebung. Das Bedürfnis nach Ablenkung und Unterhaltung, die Sehnsucht nach tröstenden Geschichten, die Vergewisserung, daß man zu den Davongekommenen zählt - all dies war schier übermächtig 3. Kino war als Überlebensmittel fast genauso wichtig wie Nahrung, Kleidung und Wohnung .
Obwohl das Lichtspielwesen jetzt schon seit über hundert Jahren unser Leben begleitet, hat die kleinräumige Filmgeschichte erst in den achtziger Jahren, im Zuge der allgemeinen Regionalisierungstendenz in der historischen Forschung, Interesse gefunden. Es war vom Typus her vor allem chronologische, lexikographische, überblicksartige oder partikularisierende Geschichtsschreibung. In einzelnen Räumen wurde „Nahtlosigkeit“ und nachschlagewerkartige Genauigkeit bei langen Untersuchungszeiträumen angestrebt. Das oft dürftige Quellenmaterial in einzelnen Epochen wurde unterfüttert mit der allgemeinen, überregionalen Entwicklung 4, eine Problematik, die bei vielen regionalgeschichtlichen Arbeiten zu beobachten ist. Betrachtet man die Bibliographie von Joachim Steffen 5, so fällt auf, daß es vor allem die Anfangsjahre der regionalen Kinematographie seit 1895 bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts waren, die im Blickpunkt der Forschung standen. Dies hat sich auch im Jubiläumsjahr 1995 nicht grundlegend geändert . Die Frage des Wiederanfangs von Film und Kino in der Besatzungszeit wurde vorwiegend in großem Rahmen 6 behandelt. Obwohl eine befriedigende wissenschaftliche Bearbeitung dieses Bereichs in der französischen Zone bisher fehlt 7, widmet sich bereits eine
-405-
Darstellung dem Gebiet des heutigen Landes Rheinland-Pfalz 8. Im regionalen und lokalen Bereich herrschte die oben bereits erwähnte Form der Dokumentation und Chronik vor 9.
Film ist zwar ein ubiquitäres und beliebig reproduzierbares Medium, das das Kleinteilige und Eingegrenzte überschreitet 10. Einzelne Streifen vermitteln jedoch durch ihre Inhalte und mit der Eigenart ihrer ästhetischen Gestaltung zum Zeitpunkt ihrer ersten, der Produktion unmittelbar folgenden Auswertung in den Kinos eine bestimmte Botschaft, wirken im Kontext mit anderen medialen Aussagen ... vielfach als zeittypisches Dokument 11.. Die kundenorientierte Auswahl der Spielpläne läßt wiederum Schlüsse auf die Mentalität der Trümmergesellschaft zu, da Kino das einzige audiovisuelle Medium der Nachkriegszeit war und eine weit größere Breitenwirkung hatte als heute. Bei der Untersuchung der Besatzungszeit stellt sich zudem die Frage, wie die Spielpläne durch die französische Besatzungspolitik beeinflußt worden sind, die dem Kino eine Rolle als kulturpolitisches Erziehungsinstrument zudachte 12.. Um solch ein tiefenwirksames Vorhaben umzusetzen, bedarf es eines klar abgegrenzten Untersuchungsraumes. Dazu eignet sich Ludwigshafen, das 1946 die einzige Großstadt der französischen Zone war 13.. Hier entwickelte sich rasch eine nennenswerte Anzahl kleiner privater, aber auch unter direktem Einfluß der Militärregierung stehender Großkinos, wie beispielsweise die bereits erwähnten ehemaligen UFA-Paläste „Pfalzbau“ und „Rheingold“. Zudem boten die Vororte in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein kleinstädtisch-ländliches Milieu, das mit dem der Innenstadt kontrastierte.
An vergleichsweise konventionellen und leicht zugänglichen Quellen lassen sich indessen die politischen und mentalitätsgeschichtlichen Dimensionen von
-406-
Film und Kino nachweisen: In der Tageszeitung „Die Rheinpfalz“ hat das
Angebot der Lichtspielhäuser von Anfang an ausgiebigen Niederschlag
gefunden. In Ludwigshafen erschien sie erstmals am 29. September 1945
14.,
vier Tage später lief im „Pfalzbau“ der Spielbetrieb an. Die serielle
Auswertung dieser Quelle erlaubt es, am lokalen Fallbeispiel die politisch-gesellschaftlichen
Implikationen des Mediums zu klären. Zum Vergleich werden bisher unveröffentlichte
Projektberichte zu anderen Städten 15. der französischen Zone
und zur Ludwigshafener Schwesterstadt Mannheim16. (Amerikanische Zone)
hinzugezogen. Anhand einschlägiger Akten über das Lichtspielwesen
und der zeitgenössischen Einwohnerbücher wird die Entwicklung
der Lichtspieltheater umrissen. Zunächst folgt jedoch eine allgemeine
Einführung in die rechtlichen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen
von Film und Kino in der französischen Zone, denn vor allem sie waren
es, die die Situation vor Ort prägten.